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Mit fünf Mark pro Stunde nach Paris

■ Immer mehr DDR-BürgerInnen arbeiten für wenig Lohn in westlichen Kaufhäusern oder Läden / In der Hauptstadt werden dagegen verzweifelt VerkäuferInnen gesucht / Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen fordert Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge

Letztes Jahr im November lehnte sich der DGB-Vorsitzende Michael Pagels ganz weit aus dem Fenster. Er habe Informationen, so sagte er damals, daß bei Aldi und Drospa DDR-Pendler aushilfsweise beschäftigt seien. Die Ladenketten reagierten sofort, halbseitig annoncierten sie, daß an dieser Behauptung kein Wort wahr ist. Inzwischen erhärten sich die Anzeichen dafür, daß, wenn auch nicht bei Aldi und Drospa, zunehmend mehr DDR-Pendler in Einzelhandelsunternehmen Tomatenbüchsen stapeln und in Boutiquen Kleider bügeln. Inge H. zum Beispiel verkauft für einen Fünfer pro Stunde Billig-T-Shirts auf dem Sonntagsmarkt an der Straße des 17.Juni. Ihr Arbeitgeber beschäftigt Inge H. ganz legal. Da sie Deutsche im Sinne des Grundgesetzes ist, bedarf sie keiner Arbeitserlaubnis, kann, wie jeder andere Bürger auch, bis zu 470 Mark im Monat verdienen, ohne Lohnsteuer oder Sozialversicherung zu bezahlen. Der Haken dabei ist: Inge H. geht auch einem Beschäftigungsverhältnis in Ost-Berlin nach. Nicht am Wochenende, wie sie ausdrücklich betont, sondern täglich in einem Haushaltswarengeschäft. Sie hätte noch keine Stunde gefehlt, biegt Inge H. jede Nachfrage im voraus ab, das verdiente Westgeld ist „ein reines Extra für eine Parisreise im Juni“.

Dramatischer sieht das die HBV. Fast täglich, berichtet der Landesbezirksvorsitzende Manfred Müller, „erkundigen sich Einzelhandelsbeschäftigte aus DDR-Betrieben über die Rechtslage und die tariflichen Bestimmungen einer geringfügigen Tätigkeit. Gleichzeitig beklagen aber dieselben Besucher, daß im Einzelhandel der DDR immer weniger Beschäftigte tätig sind, weil inzwischen viele Arbeit in West-Berlin gefunden haben. Durch den für die Pendler günstigen Schwarzmarktwechselkurs werden die ausgelacht, die noch für 800DDR-Mark 44 Stunden in der Woche arbeiten.“

Sowohl die HBV als auch das Pendant im Osten, die Gewerkschaft Handel, Nahrung und Genuß, befürchten, daß die Versorgungslage in der DDR sich nicht nur wegen des fehlenden Warenangebotes verschlechtert, sondern auch wegen des fehlenden Personals in den Ostberliner Kaufhallen. Die HBV hat deshalb schon 1989 die Betriebsräte aufgefordert, der Einstellung von DDR-Pendlern keine Zustimmung zu erteilen. Außerdem hat die Gewerkschaft beim Senat die „Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge für den Berliner Einzelhandel“ beantragt. Eine Entscheidung hierüber wird im Tarifausschuß am 30.1. getroffen. Die Allgemeinverbindlichkeit hätte zur Folge, daß alle, auch die Miniläden, ihren Beschäftigten zumindest den Tariflohn bezahlen müßten, daß ein Lohndumping auf dem Verordnungsweg verhindert wird. Den besten Schutz gegen Lohndumping hier und Pendlerarbeit zu Lasten der DDR-Volkswirtschaft könnte nur ein Regierungserlaß bringen. Die HBV fordert, die Sozialversicherungsfreiheit bei Beschäftigungsverhältnissen unter 470 Mark im Monat zu verbieten, eine Forderung, die auch der DGB schon lange aufstellt.

Inge H. würde dann von zwei Seiten bedrängt werden. Das ab 1. Februar geltende Reisegesetz der DDR droht zum einen mit Paßentzug bei „einer entgeltlichen Tätigkeit im Ausland“, zum anderen stellt sich die Frage, ob ihre billige Wochenendarbeit für den Arbeitgeber dann noch interessant ist, wenn er seine Angestellten versichern müßte. Die Parisreise ist gefährdet!

ak

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