: Rostocker SED ohne Organ
Szenen aus dem alltäglichen Machtkampf in Rostock / taz-Besuch beim ehemaligen SED-Lokal-Organ „Ostsee-Zeitung“ ■ Aus Rostock K. Wolschner
Die Oppositions-Gruppen in Rostock haben seit einer Woche das Haus der SED-Kreisleitung zur Verfügung. „Wo ist die SED -Kreisleitung? “ - Das scheinen die Rostocker Bürger selbst nicht zu wissen. Nach einigem Hin und Her finden wir das Haus doch. Eine Gründerzeit-Villa. In der ersten Etage ist das Foyer repräsentativ holzverkleidet, der Versammlungsraum mit seinen buntverglasten Rund-Fenstern und seinen Holzschnitzereien gleicht eher einer Kapelle als einem Parteibüro.
In den oberen Etagen, in denen real-sozialistische Plaste und Elaste das altbürgerliche Gemäuer verkleiden, sitzen ein paar Leute vom Neuen Forum herum. Als Abgesandter der Bremer Grünen trifft Michael Rittendorf ein: Die Grünen wollen, berichtet er, 100.000 Mark (West) für den DDR-Wahlkampf spenden. Nur wem? Wie steht das Neue Forum zur SPD? Forums -Sprecher und Pfarrer Christoph Kleemann lacht. Zwei Forums -Leute am
Tisch sind gerade in die SPD eingetreten.
Das Ständehaus, in dem das Neue Forum in den ersten Wochen nach der Wende seine Räume bekam, steht wieder voll der Nationalen Volksarmee zur Verfügung. Am Samstag strömten hier Tausende von Bremern durch. Demnächst soll hier Kultur stattfinden, auch von alternativen Gruppen. Am Donnerstag hatte ein Offizier der NVA auf der Demonstrations-Kundgebung für die weitgehende Auflösung der NVA plädiert.
Am Freitag war die „Ostsee-Zeitung“, seit Jahren SED -Monopol-Zeitung im gesamten Bezirk, ohne Untertitel erschienen und ohne Impressum.
Ingo Richter, SPD-Chef in Rostock, hatte am „Runden Tisch“ darauf die Schließung der OZ verlangt, weil eine Zeitung ohne Impressum illegal sei. Die SPD hat eine Lizenz für eine „Mecklenburgische Volkszeitung“ - ein Titel mit alter Tradition - beantragt und spekuliert auf das Papier -Kontingent der OZ. Der Chefredakteur der OZ war bereits
in Berlin bei Parteichef Gysi, um die Überführung der Zeitung in einen volkseigenen Betrieb zu verlangen. Am Montag, erklärt Lokalchef Ingo Müller, wolle die OZ mit Impressum erscheinen. Als Herausgeber fungiere dann der Verlag. Was wird sich sonst ändern?
Sonntag morgen, Lokalredaktionsräume der OZ. Der Lokalchef ist aus der SED ausgetreten. Am Samstag war Betriebsversammlung, die Belegschaft hat die gesamte Verlagsleitung neu gewählt. „Wir sind die einzige unabhängige Zeitung“, sagt der Lokalchef stolz.
Sonntag, 10.30 Uhr. Ein Major der Volkspolizei kommt in die Redaktion. In der Nacht war in einem Kaufhaus eingebrochen, der Pförtner mit einem Hammer niedergeschlagen worden. „Sowas gab's bisher bei uns praktisch überhaupt nicht“, sagt der Vopo. Der Major - man duzt sich - gibt dem Lokalchef ein paar Details, auch über die Vorfälle auf dem jüdischen Friedhof, wo ein Grabstein umgestürzt wurde.
Zehn Minuten später. Sven
Viereck, der Organisator des Bremen-Festes, kommt herein. 20.000 Besucher seien da gewesen, sagt Viereck. Aber nur 800 der 3.500 privaten Übernachtungsmöglichkeiten seien genutzt worden. Manche Rostocker Familie sei sauer, keinen Bremer abgekriegt zu haben. Und manches Kassler mit Rosenkohl wurde kalt. Immerhin: Alle hätten sich gut amüsiert.
„Wissen Sie, wie die Leute hier früher rumgelaufen sind?“ fragt der OZ-Redakteur. „So!“ - Er geht mit gesenktem Kopf durchs Zimmer. Sven Viereck: „Die Rostocker haben den Kopf hochgenommen und gelächelt. Als ich das gesehen habe, wußte ich, das Fest ist ein Erfolg.“
Viereck berichtet von den Versuchen des Oberbürgermeisters Henning Schleiff, sich in Szene zu setzen. Auch die SPD sei von den Organisatoren abgewimmelt worden. „Wir wollten die Politik raushalten.“
Kurz darauf. Die CDU-Zeitung „Der Demokrat“ ruft beim (Ex -)SED-Blatt an, erkundigt sich nach Details des Festes. Der
OZ-Lokalchef erzählt alles. (Wer wird sich wundern, wenn die CDU-Zeitung nichts anderes schreibt als das SED-Blatt?)
Was wird nun aus der unabhängigen Ostsee-Zeitung? So richtig weiß keiner, wie es weitergeht. „Mehr Lokales“ will der Lokalchef. Hinter ihm liegt eine Ausgabe der Lübecker Nachrichten. West-Medien sind Vorbild. Aber die Redaktion ist die alte. Wie eine Zeitung die Hierarchie der SED -Fürsten hofiert, haben die Journalisten gelernt. Aber wie von heute auf morgen eine Zeitung „Für die Leser“ machen? „Das müssen wir alle lernen“, sagt Klaus Müller. „Das wird jetzt alles anders“, sagt der Fotograf, der bislang die „optischen Arbeitsnachweise“, sprich: Prominentenfotos geliefert hat. Aber die SED hat bisher pro Jahr 8,5 Millionen Mark zugeschossen. Als volkseigener, unabhängiger Betrieb muß die OZ sich selbst tragen. Was ist der Preis der Unabhängigkeit? Die Belegschaft hat am Samstag einen Ökonom zu ihrem neuen Verlagsdirektor gewählt.
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