: Mit Broschüren gegen Baseballschläger
■ Jugendsenatorin Klein fordert 100 Streetworker-Stellen, um Rechtsextremismus und Jugendgewalt angemessen begegnen zu können / Neuer „Rundbrief“ zum Thema Rechtsextremismus und Jugendarbeit vorgestellt / Innensenator u n d Gesellschaft müssen überzeugt werden
“...Sie wurden gefragt, ob sie nicht Lust hätten, mit ihren Gas- und Leuchtpistolen auf dem S-Bahngelände Priesterweg ein paar Schießübungen zu machen. Alle fuhren dahin. Sie ballerten dann aber sinnlos durch die Gegend und klauten Munition. Nach kurzer Zeit waren sie wieder zurück.“ - Zitat aus dem Bericht eines Sozialarbeiters über die Kontaktaufnahme von rechtsextremistischen Organisationen zu Berliner Jugendlichen. Der Anwerbungsversuch verlief dann aber doch wie das Hornberger Schießen. Eine Episode aus der gestern vorgestellten Schrift der Jugendsenatorin zur „Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus“. Forderung der Senatorin: 100 Streetworker für Berlins gefährdete Jugendliche.
Die geschilderte Episode ist typisch. Die Bereitschaft zu Gewalt und rechter Propaganda ist da - und doch gibt es keine flächendeckende rechtsextremistische Verschwörung, keine wirklich politische Struktur auf seiten der Rechtsextremen bis neofaschistischen Jugendszenerie. Wohl aber eine Bereitschaft zu Haß und Gewalt, deren Anhänger längst in Tausender-Einheiten gezählt werden müssen...
Gefühle, Stimmungen, Haß und Gewalt sind keine „Vorgänge“ für bürokratische Sachbearbeitung auf Ämtern. Deshalb stehen Bürokraten - und mit ihnen die über sie hingewählten PolitikerInnen - zumeist motivations- oder hilflos vor solchen Erscheinungen. So auch im Fall des neuen und neuesten Rechtsextremismus unter Jugendlichen und der berlinweiten Zunahme von sogenannter struktureller Gewalt: Der Staat kommt immer zu spät. Auch Jugendsenatorin Klein mit ihren Bändchen gegen Rechtsextremismus. Anne Klein trat folgerichtig auch eher zurückhaltend, defensiv, ratlos vor die JournalistInnen. „Wir wissen es noch nicht...“, „Es fehlen Experten...“, „Man ist sich sehr unsicher...“ begannen die Sätze der Politikerin. Zu Recht konnte sie allerdings dabei darauf verweisen, daß eine solche Entwicklung natürlich eine lange Vorgeschichte außerhalb ihrer Verantwortung habe - und andererseits sozialpädagogische Strategien längst nicht so schnell entwickelt werden könnten wie polizeitaktische Maßnahmen.
Deren Sinn mochte die AL-Senatorin auch gar nicht völlig in Frage stellen. Ihre Konzeption läuft jedoch auf Verhütung hinaus. Dringend müsse man sich auf der Straße den Jugendlichen stellen. Fazit: neue Stellen für Sozialarbeiter, verbunden mit einer eiligst zu entwickelnden Großkonzeption müßten her. Zusammen mit Justiz, Inneres und Schule bastele man auch bereits an solchen inhaltlichen Ansätzen. Bloß: die Milchmädchenrechnung 100 Stellen mal 70.000 Mark jährlich kann auch die Senatorin in ihren Taschenrechner tippen. Und Kollege Innensenator müsse noch überzeugt werden, räumte sie selbst auch sogleich ein. Und für die Übergangszeit bis zum großen Wurf gibt es nun zum einen die Broschüre, zum anderen Seminare für Pädagogen und Sozialarbeiter, einzelne kleinere Schwerpunktmaßnahmen in den Stadtteilen - und eben die interministerielle Arbeitsgruppe für das Konzept.
Tragik der Problematik: Der Staat hinkt immer hinterher. Wie in dieser Woche berichtet, beobachten Kripo -Spezialbeamte im Moment einen gewaltigen Anstieg der Jugendbandenkriminalität. Jede Nacht fordert sie Verletzte und erzeugt neue Täter. Besonderes Kennzeichen: Es handelt sich nicht mehr nur um Skinheads und Neonazis alleine, sondern verstärkt um Gangs, die nach amerikanischem Trivialfilm-Vorbild auf brutalste Weise Abenteuer Großstadt nachspielen. Weiteres besonderes Kennzeichen: Immer mehr ausländische junge Berliner organisieren sich - und schlagen zurück. Längst ist die Überschrift „Rechtsextremismus“ nur noch ein wenig brauchbares Etikett. Die sorgfältig gemachte 96-Seiten-Broschüre, die auch in der DDR verteilt werden soll, muß zwangsläufig eine Begleitmaterialie bleiben. Das sagte gestern auch Anne Klein - wohl wissend, daß mit traditionellem Antifaschismus und akademischer Diskussion kaum etwas auszurichten ist und Sozialpädagogik nicht per Behördenakt entstehen kann.
Thomas Kuppinger
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