: Ost-Aussiedler keine „Vertriebenen“ mehr
■ Bremen schafft „Begrüßungsgeld“ für DDR-Übersiedler und Hilfen für „Vertriebene“ aus Ungarn und Polen ab
„Chaos ist ausgebrochen“, erklärte gestern der Sozialsenator Henning Scherf, und der Sozialstaat scheint mit seinen Versprechungen am Ende angekommen. Allein im Januar sind 1.000 Aus-und Übersiedler nach Bremen gekommen, drei Turnhallen sind inzwischen belegt. Am Samstag sollen die Notbetten in der Turnhalle des Gymnasiums Am Barkhof belegt werden, für heute (Freitag) ist eine Beschlagnahmeverfügung für die Turnhalle beim Lidice-Haus angekündigt. In der Nacht zum Donnerstag wurde eine ehemalige Schule in der Leuschnerstraße belegt - der Sozialsenator erfuhr davon, als er morgens zum Dienst kam. Im
Falle der Turnhalle des Lidice-Hauses setzt sich die Behörde über das einstimmige Votum des Jugendwohlfahrt-Ausschusses hinweg. Über das Lloyd-Hotel und die Scharnhorst-Kaserne gibt es Verhandlungen, hohe Schadensersatzforderungen und Prozesse drohen, „vielleicht fliegen wir da noch in diesem Frühjahr raus“, meinte Scherf. Als Ersatz sind sind leichte Wohn-Container im Gespräch, und der Bunker Scharnhorst -Straße sei bezugsfertig.
In den Jahren des kalten Krieges und des „eisernen Vorhangs“ wurde Flüchtlingen aus den realsozialistischen Ländern soziale Hilfen versprochen. Um zu bera
ten, wie diese unter den neuen Bedingungen abgebaut werden können, hatten sich in der vergangenen Woche die zuständigen Minister des Bundes und der Länder in Bonn getroffen. Da hat es nur „Fingerhakeln“ gegeben, berichtete Scherf, Bremen müsse jetzt auf eigene Faust handeln.
Seit gestern gibt es für DDR-Übersiedler, die in Bremen ankommen, nicht mehr die 30 Westmark landesspezifisches Begrüßungsgeld und auch keine Freikarten für den öffentlichen Nahverkehr und Kulturveranstaltungen. Das sei „freundlich gemeint“ gewesen, erklärte Sozialsenator Scherf.
In Vorbereitung ist eine Rege
lung, die für Aussiedler aus Ungarn und Polen den „Vertriebenenstatus“ abschafft; bisher hatte man grundsätzlich einen „Vertreibungsdruck“ angenommen.
Am kommenden Dienstag soll der Senat beschließen, diese Nationalitäten anderen Ausländern gleichzustellen, die keine sozialen Ansprüche stellen können. Schon seit einigen Wochen wird polnischen Familien, die in Bremen seit Jahren geduldet werden, mit der Streichung der Sozialhilfe gedroht; sie sollen so zur Rückkehr gedrängt werden. Seit Anfang Januar schon wird in Bremen den Polen, die nur durch die Registrierung ihrer Großeltern in der sog. „Volksliste drei“ ihre Volks
zugehörigkeit nachweisen konnten, die Anerkennung als „Vertriebene“ verweigert. Durch einen politischen Vorstoß in Bonn will Sozialsenator Scherf erreichen, das Bundesvertriebenenrecht ganz abzuschaffen.
Auch wenn Flüchtlinge aus den osteuropäischen Ländern mit denselben Mechanismen abgehalten werden, die für die „Dritte Welt“ funktionieren, wird der Flüchtlingsstrom weitergehen. Erwartet werden in der Bundesrepublik 170.000 deutschstämmige Rumänen, unzählige aus der Sowjetunion und je nach den politischen Bewegungen - zigtausende aus der DDR.
K.W.
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