: Das Schweigen brechen
■ Projekte und Initiativen gegen sexuellen Mißbrauch
Sexuell mißbrauchten Mädchen und Jungen gerecht zu werden, heißt, sie zu stärken und sie in ihren Widerstandsformen zu unterstützen. Dazu gehört in erster Linie, sie zum Sprechen zu bringen und ihnen zu glauben. Untersuchungen zeigen, daß betroffene Kinder, die über ihren Mißbrauch sprechen wollen, sich im Durchschnitt sechs Erwachsenen anvertrauen, bis ihnen die siebte Person glaubt. Es ist ein Verdienst der Frauenbewegung, daß die Problematik des sexuellen Mißbrauchs innerhalb der Familie immer mehr ans Licht der Öffentlichkeit gerät.
In den letzten Jahren schießen Mädchennotrufe, Initiativen, Mädchenzentren und -häuser wie Pilze aus dem Boden. Initiativen wie „Wildwasser Berlin“ oder „IMMA München“ stehen als Vorreiter da. Andernorts folgt frau den guten Beispielen. Petra Reinhard von der Bremer Mädchenhaus -Initiative: „Es geht auf jeden Fall vorwärts!“ Was die ideelle Anerkennung dieser Initiativen angeht, tun sich die Behörden nicht mehr so schwer. Die Zahl der Mißbrauchsfälle ist dafür einfach zu hoch. Sobald aber finanzielle Forderungen gestellt werden, wird es problematisch. So arbeitet immer noch ein Großteil der engagierten Frauen ehrenamtlich.
Eine Gruppe Bremer Frauen soll hier exemplarisch die Situation und Arbeitsweise verdeutlichen: Unter dem Namen „Schattenriss - Arbeitsgruppe gegen sexuellen Mißbrauch von Mädchen e.V.“ schloß sich vor drei Jahren eine Gruppe von sieben Bremer Frauen zusammen. Über die Hälfte arbeitet ehrenamtlich. Schattenriss will erreichen, daß diese Art sexueller Gewalt nicht weiter tabuisiert, bagatellisiert und als Kavaliersdelikt angesehen wird. Die betroffenen Mädchen und Frauen können sich für ein persönliches Gespräch an die Beratungsstelle wenden oder sich telefonisch beraten lassen. Darüber hinaus gibt das Projekt eine große Anzahl weiterer Hilfestellungen zum Thema, angefangen bei der Beratung von Müttern, über Fortbildung und Informationsveranstaltungen bis hin zum Erarbeiten von Materialien, die die Auseinandersetzung mit dem Problem ermöglichen sowie vorbeugend eingesetzt werden können.
„Wir arbeiten anonym“, beschreibt Katrin Radtke die Arbeit von Schattenriss. „Es wird nichts festgehalten. Wir arbeiten parteilich für Frauen und Mädchen und machen überhaupt keine Täterarbeit.“
Betroffene, die eine Therapie machen wollen, werden an Therapeutinnen weiterverwiesen, die die Schattenriss-Frauen kennen. Katrin Radtke: „Die Schwierigkeit ist, daß alle Fachkräfte so fürchterlich ausgelastet sind. Dazu kommt, daß es nur sehr wenige gibt, die mit kleinen Mädchen arbeiten.“ Die Therapie bei kleinen Mädchen kann kaum auf verbaler Ebene ablaufen, um sie beispielsweise über das Spielen, Malen oder über Körperarbeit zum „Sprechen“ zu bringen. Dafür benötigt die Therapeutin eine ganz andere Ausbildung. Katrin Radtke: „So ein kleines, vielleicht dreijähriges Mädchen kann das, was mit ihm passiert ist, wozu sie sexuell gezwungen wurde, noch gar nicht begreifen oder beim Namen nennen.“ In Bremen beispielsweise existiert nur eine einzige Kinderpsychiatrie-Praxis, die eine entsprechende Arbeitsweise vorweisen kann.
Die größte Chance, sexuellen Mißbrauch abzubauen, sieht die Beratungsstelle im vorbeugenden Bereich. Vorbeugung heißt bei Schattenriss, die Mädchen zu stärken. Katrin Radte: „Die Kinder sollen lernen, nein zu sagen, Dinge abzulehnen, mal nicht von Opa oder Oma in den Arm genommen zu werden und die Schokolade auch ohne Küßchen zu bekommen. Das sind alles so Sachen, welche den Kindern übergestülpt werden, ohne je die Möglichkeit zu bekommen, etwas abzulehnen. Mit den körperlichen Berührungen geht das genauso. Der Mißbrauch geht immer dann los, wenn sich das Kind in irgendeiner Weise unwohl fühlt. Dabei reicht es schon, wenn ein Erwachsener ihm permanent über die Haare streicht, es ständig auf den Arm nehmen oder abknutschen zu müssen meint.“
Logisches Resultat aus ihrer Arbeit wäre für Katrin Radtke ein Mädchenhaus: „In den Fällen, in denen die Mädchen dringend aus den unerträglichen Zuständen des Elternhauses ausziehen sollten oder wollen, gibt es einfach keine Wohnmöglichkeiten, wo wir sie adäquat unterbringen können.“
Um solcherart Vorhaben zu realisieren, fordern engagierte Frauen in der ganzen Bundesrepublik feste Stellen und finanzielle Unterstützung (Haushaltstitel). In Anbetracht des Ausmaßes der Problematik müssen Hilfe, Vorbeugung und Aufklärung endlich zur öffentlichen Aufgabe werden.
Literatur zum Thema und Adressen von Mädchenhäusern, -notrufen, -initiativen etc. sind bei den zuständigen Frauenbeauftragten der Bundesländer oder Städte zu bekommen oder beim Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit, Kennedyallee, 5300 Bonn 2.
Martina Burandt
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