piwik no script img

Einheit als Chance

Zur Situation nach dem Modrow-Vorschlag  ■ K O M M E N T A R

Einheit, Nationalstaat, Deutscher Bund, Konföderation, Föderation und „Einheit von unten“, „Einheit in nationaler Solidarität“, „Deutschland einig Vaterland“, „Wiedervereinigung“ und auch, nicht zu vergessen, „Deutschland über alles“ - mit Modrows Zehn-Punkte-Plan sind nun alle Konzepte, Schlagworte, Hoffnungen der Vereinigung versammelt. Es wäre unsinnig, Modrows politische Wende unter dem Begriff Kapitulation abzuhandeln. Er hat seinen Anspruch angemeldet, auch nach dem 18. März Politik zu machen. Er hat weitaus klarer und vehementer als die DDR-Opposition formuliert, daß er die Frage der deutschen Einheit nicht der Bundesrepublik überlassen will. Daß er die Parole der Leipziger Montage, den Satz aus der DDR-Hymne „Deutschland einig Vaterland“ aufgenommen hat, ist ja kein bloßer Opportunismus oder zumindest der Opportunismus, der von einem Politiker zu verlangen ist: das, was die „Straße“ sagt, ernst zu nehmen. Modrow hat sich jedenfalls mit diesem Schritt endgültig aus dem Schatten der SED-PDS herausbewegt, als einer Partei, deren Apparat bis zuletzt die DDR -Eigenstaatlichkeit zu bewahren vorgibt. Vor allem aber: Modrow brachte mit seinem Vorschlag eines entmilitarisierten Deutschlands die Sowjetunion ins Spiel, das sie aus eigener Kraft nicht mehr bestimmen kann.

Fragt sich dennoch, ob nicht Verlust anzumelden ist, Verlust der Verheißungen der „sanften Revolution“ drüben, Verlust einer linken Utopie. Mit dem Beginn der Massenbewegung in der DDR begann die Linke die Zweistaatlichkeit, die pädagogische Behutsamkeit im Umgang mit den November-Revolutionären zu beschwören. Immer dringender wurde aus der Bundesrepublik die Eigenständigkeit der DDR, das Zu-Bewahrende der Kultur eingeklagt. Darin lag gewiß die Utopie einer Nation zweier Gesellschaftsordnungen, die Utopie gegenseitiger Vermischung und Befruchtung, auch die Hoffnung, daß der Impuls der Revolution drüben sich unmittelbar übersetzen, die Parteienoligarchie hierzulande unter plebiszitären Druck setzen könne. Diese Utopie ist zunächst einmal gescheitert. Zunächst einmal! Falsch war, von der DDR-Revolution gewinnen und die Berührung mit der DDR-Misere gleichzeitig vermeiden zu wollen. Die Idee von der Zweistaatlichkeit als Chance war eine Fiktion, weil sie übersah, daß in der DDR ein System zusammengebrochen ist, das heißt, daß auch die Errungenschaften mithin systematisch gescheitert sind. Deutlichstes Beispiel: Die Honeckersche Einheit von Sozial- und Wirtschaftspolitik läßt die Arbeiter in extremster Schutz- und Rechtslosigkeit zurück. Falsch war die Idee von der Zweistaatlichkeit auch, weil sie von tiefem Desinteresse gegenüber der DDR-Realität getränkt war, eine Abscheu, die sich bis in den Mißmut gegenüber den Leipziger Montagsläufern fortsetzt. Noch heute tun sich westdeutsche Linke schwer, in dem Leipziger Ruf nach Wiedervereinigung den Hilferuf herauszuhören.

Die Beschwörung einer eigenständigen DDR-Kultur konnte ohnehin vom Westen aus nicht gelingen. Sie wurde immer unsinniger, je weniger Protagonisten in der DDR überhaupt noch aufzutreiben waren. Der linke Denkfehler lag aber darin, daß die Eigenständigkeit dieser Kultur als zentrale Bastion gegen die drohende deutsche Vereinigung begriffen wurde. Das Verhalten der DDR-Opposition zeigt längst schon die Einsicht, daß die Eigenständigkeit nicht aus der Konkursmasse des SED-Staates gerettet und auch nicht gegen die Einheit bewahrt werden konnte. Vielmehr ist nur die eine Chance denkbar, daß im Prozeß der Einheit sich notwendigerweise die Eigenständigkeit entwickelt.

Als „Tabula rasa“ definierte Jens Reich die Chance der DDR. Wenn die Frage der Einheit politisch beruhigt und entdemagogisiert ist - Modrow hat dazu seinen Beitrag geleistet - wird sich schnell herausstellen, daß die „Tabula rasa“ DDR nicht durchs westdeutsche Kapital gefüllt werden kann. Keine Stadt, kein Krankenhaus, keine Reichsbahn, keine vergiftete Landschaft in der DDR wird gerettet werden, wenn es nicht die Leute dort selber tun. Ideen zu einer eigenen DDR-Reform sind unverzichtbar und werden durch keine Vereinigungsprogramme ersetzt werden können. Auf die DDR -Bevölkerung kommt die Notwendigkeit und das Eigeninteresse zu, sich für das Glück ihres eigenen Zusammenlebens engagieren zu müssen. Dieses Engagement allein wird letztlich die Leute an ihre Heimat binden. Das kann vom westdeutschen Kapital nicht abgekauft, noch gekauft werden. Erst durch die politische Absicherung der künftigen Einheit ist für die Bevölkerung wirklich die Gefahr gebannt, daß die SED-Herrschaft noch wiederkehrt. Dann ist Raum für Hoffnung, ohne die sich niemand engagieren wird. Und es ist auch klar, daß diese Hoffnung vom Westen in seinem ureigensten egoistischen Interesse unterstützt werden muß. In dieser Chance könnte sich jedenfalls auch ein linker Optimismus ansiedeln, wenn schnell genug die Klage über den verlorenen zweiten Staat vergessen wird.

Bleibt die Angst vor dem Land der 80 Millionen Einwohner und der ungeahnten hegemonialen Kräfte. Aber auch hier wird der Streit ums Wie und nicht ums Ob gehen müssen. Ein Zentralstaat ist in der Tat eine angstbesetzte Vorstellung und es bedarf gewiß aller demokratischen Kräfte, um eine Konföderation durchzukämpfen. Gewiß ist mit einer politischen Entscheidung zur Einheit die Nachkriegszeit beendet. Wird nun auch der Schlußstrich Kohls unter die deutsche Vergangenheit nachgeholt? Das von vornherein anzunehmen, hieße die Kräfte gering schätzen, die Kohl bislang hatten scheitern lassen. Außerdem ist es denkbar, daß die Welt und die Deutschen endlich von der deutschen Frage, von dem Quell frustraner Unruhe befreit werden. Zudem muß die Werbung um das Vertrauen der Nachbarn, das Engagement für die europäische Einigung und die Abrüstung in dem unmittelbaren egoistischen Interesse der Deutschen liegen, wenn sie die Vereinigung wollen. Warum nicht die Hoffnung hegen, daß dieses Interesse mächtiger ist, als die Alpträume der Gestrigen. Jeder, hüben und drüben, wird wissen, daß es keine Einheit ohne den Vertrauensvorschuß der Nachbarn geben wird.

Klaus Hartung

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen