: Das marktgerechte ewig Wahre
■ Den Geist zu weiten und Wissen zur Einsicht zu bringen waren einst die Ideale der Universität - Wenn auch oft mit zweifelhaftem Erfolg. Die Massen-Uni von heute bietet bestenfalls eine Ausbildung
aß der Übertritt von der Schule zur Universität ein Abschnitt im jugendlichen Leben ist, auf den die Schule im Falle des Gelingens den Zögling so rein hinstellt, daß er physisch, sittlich und intellectuell der Freiheit und Selbstthätigkeit überlassen werden kann“. Das sollte, so Wilhelm von Humboldt vor 180 Jahren, die Schule leisten. Der Zögling, „vom Zwange entbunden“ und in die Freiheit der Universität entlassen, sollte sodann „eine Sehnsucht in sich tragen, sich zur Wissenschaft zu erheben“ - eine Sehnsucht, die die Universität in ihm wecken soll.
Knut (24) studiert im neunten Semester Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Keine Spur irgendeiner Sehnsucht nach Wissenschaft hatte ihn dorthin getragen. Die Uni war für ihn ein „Durchlauferhitzer“: „Ich hole mir das Handwerkszeug für den Beruf, sagte ich mir, hole mir einen Abschluß, und dann gehe ich in die Wirtschaft.“
Die „höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen“ hatte Humboldt als wahren Zweck des Menschen auserkoren. Knut ging in die Uni wie in eine höhere Berufsschule. Und doch ist dann mehr daraus geworden, packte ihn plötzlich im vierten, fünften Semester eine Begeisterung - „da wurde ich auf einmal mit Themen konfrontiert, die mich vorher überhaupt nicht tangiert hatten: Anarchie - was ist eigentlich Anarchie?“ Er studierte nicht mehr für den Schein, sondern las, weil er selbst zu suchen anfing (oder altdeutsch: nach Erkenntnis strebte) - Max Weber, Günter Anders, Ivan Illich. Das Studium habe ihm eine große Verschiebung seines Weltbildes gebracht, hält er der Universität heute zugute: „Sie kann durchaus Lernanreize bieten und Horizonte öffnen.“
ilanz eines Privilegierten, dem die Freiräume des Politikstudiums am Otto-Suhr-Institut der FU zugute gekommen sind. Markus (27), der sich an der Technischen Universität Berlin zum Wirtschaftsingenieur ausbilden läßt, kann am Ende seines Studiums nicht auf solche Erfahrungen zurückblicken. Ihm ist es in den heiligen Hallen der Wissenschaft so ergangen wie immer mehr Studierenden: Die Ausbildung in seinem Fach reduziert sich auf die genaue Beachtung eines stofflichen Fahrplans, bei dem einzig die absolvierten Scheine den Lernfortschritt dokumentieren - bürokratische Stationen auf dem Weg zum Examen. Allerdings hat auch ihm der Universitätsbesuch Horizonte geöffnet: Nicht im Studium, sondern durch die Hochschulpolitik, in die er sich gestürzt hatte.
Hat ihn das „gebildet“? Unvermeidliche Gegenfrage: „Was ist denn Bildung?“ Es ist beinahe schon anachronistisch geworden, nach der Universität als Bildungsstätte zu fragen
-angesichts hoffnungsloser Überfüllung von Hörsälen, Seminaren und Praktika, in denen selbst eine fundierte Ausbildung kaum mehr zu haben ist.
Beobachter aus der 68er Generation merkten beim Studentenstreik im Wintersemester 88/89 an, daß die heutige Studentengeneration erschreckend ungebildet sei. Das Niveau der Diskussionen empfanden sie als beklagenswert dürftig. Der „gebildete“ Student von damals gegen den „ungebildeten“ heute: Was ist verlorengegangen?
ie meisten der 68er Studenten hatten noch eine sogenannte klassische Bildung auf dem Gymnasium erfahren. Die „höhere Schule“ hatte das Ziel verfolgt, ihre Zöglinge in die erhabene Welt des Geistes und der Kultur zu führen. „Man sah sich im Gymnasium jener Zeit berufen“, schreibt ein Lehrer in der westfälischen Kleinstadt Werl über die 50er und 60er Jahre, „die Jugend in die Ordnungen und Werte einer christlich-humanistischen Kultur verbindlich einzuführen.“ Sein Rektor hatte bei einer Festansprache verkündet: „In der höheren Schule soll man dem Wahren, Bleibenden und Ewigen begegnen und gezwungen werden, sich ernst mit ihm auseinanderzusetzen.“
Was wahr und ewig war, war ziemlich genau definiert Caesars Bellum Gallicum, Goethes Faust, Griechisch, Mathematik: ein fester Kanon von Fächern und Lehrstoffen. Daß die Schule ihre Zöglinge mit Zwang in diese Welt einführte, war notwendiger Bestandteil des Systems. Wer machte sich schon freiwillig auf den mühsamen Steilweg hinauf zu den Gipfeln des ewigen Geistes?
Das ist es, was verloren gegangen ist. Den 68ern, die heute das Niveau studentischer Diskussionen beklagen, steckte noch diese Bildung in den Knochen. Auch die entsprechende Ernsthaftigkeit in der geistigen Auseinandersetzung: mit demselben Ernst, der ihnen in Lateinstunden eingebläut worden war, studierten sie in der Studentenrevolte die marxistischen Theoretiker - und waren deshalb so beschlagen in der politischen Diskussion.
iese Studentenrevolte war es aber auch, die durchsetzte, daß über Lehr- und Studienplänen nicht mehr der Anspruch schwebte, Zöglinge in die Welt des ewig Wahren zu entführen. Was hatte diese Bildung schließlich hervorgebracht: In der Regel hatte sie den späteren Zahnarzt oder Rechtsanwalt befähigt, seinen Standesdünkel mit Faust- oder Tacitus -Zitaten zu schmücken. Nur in Ausnahmefällen hatte sie geistvolle Menschen erzeugt; eine Perversion Humboldt'scher Ideale, auf die sich die Protagonisten der klassischen Bildung so gern beriefen.
Die Forderung der Studentenrevolte nach „Bildung für alle“ enthielt die Absage an jene Art von Bildung, die als Instrument sozialer Privilegierung eingesetzt wurde. Was sollte aber an ihre Stelle treten? Eine neue Idee von Bildung hat sich nicht durchsetzen können. An Stelle des ewig Wahren wurde der emanzipatorische Charakter von Bildung hervorgehoben. Den Menschen wieder die Möglichkeit zu geben, die Wirklichkeit selbst (ohne den Filter sogenannter Experten) zu verstehen, darauf müsse emanzipatorische Wissenschaft aus sein, schrieb der Bremer Physikprofessor Jens Scheer vor einigen Jahren in einem Aufsatz über modernes Bildungsverständnis. In neuem Gewand kommen darin alte Ideale der Aufklärung wieder zum Vorschein, doch der emanzipatorische Begriff von Bildung blieb zu vage, als daß er das Erbe der klassischen humanistischen Bildung hätte antreten können. Ohnedies hätte er sich angesichts der massiven Gegenwehr christlich-konservativer Kulturpolitiker nicht durchsetzen können.
iel stärker als das studentenbewegte Verlangen nach emanzipatorischer Bildung war der wirtschaftlich -gesellschaftliche Druck nach einer Verbesserung des Ausbildungsstandards breiterer Bevölkerungsschichten. Mit der in den 60er Jahren beschworenen Bildungskatastrophe war nur die Ausbildungskatastrophe des Industrielandes Bundesrepublik gemeint, die viel zu wenig technische Intelligenz ausbildete. So mündete die Forderung nach „Bildung für alle“ in eine universitäre Ausbildung für viele.
Ironie der Geschichte: Ungeachtet studentischer Kritik am Einfluß des Kapitals auf die Hochschule hat gerade die Studentenbewegung de facto die Hemmnisse beseitigt, die einer stromlinienförmigen Ausrichtung der Hochschulen auf wirtschaftliche Bedürfnisse im Weg standen. Die altväterliche Intention, Schüler und Studenten ewigen Werten zuzuführen, sperrte sich immerhin gegen eine unmittelbare ökonomische Verwertung oder die Anpassung an aktuelle wirtschaftliche Interessen.
Am Schicksal der Geistes- und Sozialwissenschaften läßt sich dies ablesen. Die tiefen Einschnitte in ihre Etats und Personalbestände in den 80er Jahren sind eine Folge des enthemmten Zugriffs des Marktes auf die Universitäten. Die Technologielücke war entdeckt worden, der Vorsprung der Japaner in der Mikroelektronik, und so „mußten“ zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit der westdeutschen Wirtschaft Milliarden in High-Tech-Forschung gesteckt werden. Die „Diskussionswissenschaften“ (Lothar Späth) wurden in den Hochschuletats zur Plünderung freigegeben.
Nachdem sie aus dem Elfenbeinturm vertrieben worden sind, stehen sie im Zugwind des freien Marktes - was nicht nur ihre Ausstattung, sondern auch ihr Selbstverständnis betrifft. „Die meisten Disziplinen der Geistes- und Sozialwissenschaften“, schreibt Wolfgang Nitsch, „werden zu abhängigen Hilfs- und Servicedisziplinen für bestimmte technologische und wirtschaftliche Schwerpunktbereiche innerhalb und außerhalb der Hochschulen umgeformt, sei es als Technikfolgenabschätzung, Akzeptanzforschung, Analyse von Kultur und Sprachen von Exportregionen, neue Medienforschung.“
ie so weit getriebene Vermarktung der Universität hat neben der bürokratischen Bewältigung des studentischen Massenandrangs - den Bildungsanspruch der Universität nahezu spurlos verschwinden lassen. Selbst der Politikstudent Knut bekam dies im weiteren Verlauf seines Studiums zu spüren: Nachdem sich in der relativen Freiheit der ersten Semester neue Horizonte für ihn aufgetan hatten, blockte ihn das Hauptstudium ab: „Auf einmal kannst du den Fragen, die sich dir aufgeworfen haben, nicht mehr weiter nachgehen, kannst nicht tiefer bohren. Du mußt dich auf immer enger begrenzte Spezialthemen konzentrieren, und dann sitzen wir in den Seminaren damit da und schwätzen über das, was eh schon viel zu breit getreten ist.“ Der offizielle Studienbetrieb ist für ihn Pflichterfüllung geworden. Tiefer zu bohren und auf geistige Entdeckungsreisen zu gehen, dies versucht er nun am Rande der Universität, in einem studentischen Projekttutorium.
Wenn mittlerweile auch im offiziellen Hochschulbetrieb wieder verstärkt über universitäre Bildung geredet wird, so dürfte dies nicht mehr als ein Konjunkturzyklus sein - vor allem der Versuch, gesellschaftliche Identitätsstörungen, die das Tempo des industriellen Fortschritts erzeugt, mittels Rückbesinnung auf alte geistige Werte zu bekämpfen. Das ändert nichts daran, daß, so Wolf-Dieter Narr, „die meisten, die von der Universität abgehen, bestenfalls fachschmalgespult genauso unreflektiert und ohne Kriterien vorurteilshaft politisieren und sich rundum verhalten, als wenn sie nie ihr Gesichtsfeld hätten erweitern können.“
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