Alltägliches Grausen

■ Vor zehn Jahren brachte sich Walter E.Richartz freiwillig und selbst ums Leben

Gerald Jung

Eines Abends im September faltete ich den Liegestuhl und die Zeitung zusammen und ging ins Haus, um Else mitzuteilen, daß ich mich von ihr trennen würde. Ich füllte die Koffer mit dem nötigsten Zubehör, suchte für Else die wichtigsten Dokumente, auch den Ordner mit den Bankauszügen zusammen. (...) Mit halbgedrehtem Kopf sagte ich: Das Auto brauche ich leider; ich ergriff meine Koffer und verließ sie gegen acht.“

Aufbrechen, weggehen, davonlaufen - nicht überstürzt, mit lächerlicher Dramatik verbrämt, sondern nach reiflicher Überlegung sich klarsichtig verabschieden. Wie der Ich -Erzähler in einer von Walter E.Richartz‘ letzten Erzählungen schied auch der Autor zuerst aus seinem gelernten Beruf und ein Jahr später durch Freitod aus dem Leben.

Die meisten seiner Bücher waren jahrelang vergriffen, jetzt liegen die Romane und Erzählungen bei Diogenes wieder vor, um den Nachlaß kümmert sich der Züricher Haffmanns Verlag. In den neuen und neusten Literatur- und Autorenlexika findet man, wenn überhaupt, nur spärliche Angaben über den Schriftsteller Richartz, anscheinend haben die Germanisten noch erhebliche Probleme mit dem uneinheitlichen Werk eines Mannes, für den das Schreiben erst in den letzten Lebensjahren zum Standbein einer anderweitig finanziell gesicherten Existenz wurde.

Richartz, mit „bürgerlichem“ Namen Walter Erich Freiherr Karg von Bebenburg, geboren 1927 in Hamburg, war Chemiker; als Doktor mit weißem Kittel verbrachte er sein Leben bis zum Jahre 1979 tagsüber in den Forschungslabors der Industrie. Schon früh müssen ihn dort Zweifel am Sinn seiner Tätigkeit und am Nutzen des naturwissenschaftlichen Fortschritts befallen haben. Der Inhaber zahlreicher Patente suchte einen Ausgleich, einen Schlupfwinkel in der Literatur.

Seine erste Veröffentlichung - von der Dissertation Reaktionen der Nitrosoamidgruppe einmal abgesehen - war Die Jazzdiskothek, die der Verehrer von Bessie Smith, Charlie Parker und Erik Satie zusammen mit G.W.Elmenhorst 1961 bei Rowohlt herausgab. Bald darauf folgte das erste Prosawerk (Es funktioniert) und die erste Übersetzungsarbeit, Thoreaus Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat, in einem kleinen Frankfurter Verlag. Aus den Übersetzungen anderer amerikanischer Autoren F.S.Fitzgerald, Stephen Crane, Ring Lardner, Dashiell Hammet und Raymond Chandler - ergaben sich Essays und Arbeiten für den Rundfunk, überaus verständige, erfrischend lesbare Betrachtungen zu geistigen Verwandten, die Richartz ans Herz gewachsen waren.

Freilich schätzte er an diesen Romanciers wohl vor allem die analytische Schärfe, die genaue Beobachtung, die ihre Werke auszeichnen. Mit genau jenem exakten Forscherblick, gepaart mit dem angelsächsischen, wie beiläufig dazugepackten Humor beschreibt auch Richartz in den eigenen Prosaarbeiten seine Umwelt. Dabei gelingt nicht alles auf Anhieb.

Wer Richartz liest, kann chronologisch die unterschiedlichsten Ansätze, Abläufe, Versuchsanordnungen des Schriftstellers nachvollziehen, sieht ihn direkt vor sich, wie er sich an Inhalten und Formen versucht, einzelne Motive wieder aufnimmt, spröde stilistische Verrenkungen ausprobiert und wieder verwirft.

So finden sich in dem Band mit den gesammelten Erzählungen von 1966 bis 1979 Das Leben als Umweg neben expressionistisch angehauchten Satzketten (Viel Gepäck), naiv-biederen Reiseerlebnissen (Marseille) und knüpppeldick aufeinandergetürmten Amerikana (Im Kino mit Grace) schon sehr gelungene Geschichten, die den späteren, lakonischen Richartz-Stil deutlich ankündigen (Brief an Onkel Gottlieb). Sein erster Roman, Tod den Ärtzten „mit 'tz‘, damit ihr scharfes Wesen klar hevortritt“ -, ist wie eine wissenschaftliche Abhandlung verfaßt, mit Fußnoten („Ich glaube nur, was ich sehe“) und einem Wust an Literaturangaben, die mit Sicherheit alle korrekt und nachprüfbar sind. In dem rauhen, versponnenen, irritierenden und irgendwie schlüssigen Pamphlet über „die Entlarvung der gegenwärtigen Zustände und Enthüllung ihrer Urheber“ wettert Richartz gegen die Untaten der überflüssigen Ärzteschaft, die seit dem alten Äskulap nichts als immer neue Krankheiten und Foltermethoden über die leidende Menschheit gebracht haben („Der Roman beschreibt nichts als die Wirklichkeit“) und endet mit dem „Letzten Aufruf: Tod den Ärtzten Eine Anleitung zum Handeln“. Hier schreibt sich einer hemmungslos das Unbehagen gegen eine undurchsichtige, total durchgedrehte Wissenschaft vom Herzen, jongliert mit Vorurteilen und nimmt keine Rücksicht mehr auf moralische oder literarische Konventionen. Ein fabelhafter satirischer Rundumschlag, der sich an Originalität mit Jonathan Swift, Mark Twain oder, um einen Zeitgenossen Richartz‘ zu nennen, mit dem Franzosen Roland Topor messen kann.

1973 erschien Noface - Nimm was du brauchst, die Geschichte eines Identitätsverlusts, erzählt im Stil der amerikanischen „Hard-boiled„-Krimis. Dr.John Reiter, Naturwissenschaftler (!), wird kurz vor seiner Abreise zu einem Forschungsaufenthalt in die USA zu einem Niemand, als ihn von heute auf morgen niemand mehr (wieder-)erkennt. Schließlich macht er sich sein Ungesicht zunutze, indem er, der nicht zu beschreiben, nicht zu identifizieren ist, ein flottes Leben als Bankräuber führt. Am Ende ist der Spuk vorüber: „Hier war ich - wieder im Lot und nichts riskiert. Ich war genau wie die meisten, denkschwach, furchtsam, mit einem starken Hang zur Unauffälligkeit. Ich hatte ein paar Einsichten. Vielleicht ging mein Trip erst los. Für meine Verhältnisse hatte ich schon eine Menge begriffen.“

Richartz selbst bastelte an seinen eigenen Einsichten und Trips. 1979, in dem Jahr, in dem er seinen Wissenschaftsjob an den Nagel hängt, erscheint Der Aussteiger, ein Band mit Erzählungen. In der Titelgeschichte porträtiert der Autor einen leitenden Angestellten, der dem irrwitzig lächerlichen Druck des Betriebs alltags nicht länger standhalten kann. Nachdem er sich langsam einen Schraubenzieher durch den Handteller gebohrt hat und allerdings „nur in der Vorstellung“ - den schweren „Rotaclean„-Aschenbecher durch die Thermofensterscheibe schleudert, macht er sich auf und davon, fängt an zu schrieben. „Ob dies ein Buch wird, weiß ich nicht. Es ist mir völlig gleichgültig, wer das liest. Sonst kümmert sich doch auch keiner drum, wer das alles wieder abruft, was wir einspeichern; schon jezt liegen Milliarden und Milliarden Bytes Informationen herum, mit denen niemand etwas anfangen kann. Das meiste wird schon gar nicht mehr von Menschen produziert, sondern maschinell, 'on-line‘. Irgendwo habe ich den Satz gehört: Mit dem Notizbuch entstand das Vergessen. Wie riesig muß das Vergessen im Zeitalter der Datenbanken sein! Ich aber schreibe nicht, um zu vergessen, im Gegenteil; ich schreibe, um endlich Erfahrungen zu machen, Exzesse, Morde, astronautische Expeditionen.“

Seine Expeditionen unternahm Richartz mit Vorliebe in die Niederungen des banalen Alltags. Mit aberwitziger Detailversessenheit seziert er im Büroroman das Leben der kleinen Angestellten im kakteenbegrünten, teuflisch monotonen Mikrokosmos der Bürowelten. Von der Löschblattwiege zum Flurfunk, vom Kantinenritual zum Verwaltungsakt wird hier ein Phänomen beschrieben, das so obskur wie alltäglich den modernen Alltag bestimmt. Dabei geht es nicht darum, auf billige Weise zu denunzieren; Richartz, der die Bürowelt von innen kannte, schreibt bei allem Witz voller Grimm und Entsetzen, er führt die obskure Normalität so vor, als beschreibe er seine Versuchstiere im Hamsterrad. Wer jemals auch nur den kleinsten Einblick in die grelle Eigendynamik einer x-beliebigen Verwaltung getan hat, dürfte den Büroroman mit euphorischem Grausen verschlingen.

Berteits posthum erschien 1980 der Roman Reiters westliche Wissenschaft, in dem Richartz sein „Noface“, Dr.John Reiter, auf Vortragsreise durch die USA schickt, eine Gratwanderung zwischen Literatur und Naturwissenschaft, die der Autor kurz zuvor selbst unternommen hatte. Wieder kann man bei der Lektüre die Selbstzweifel und den Skeptizismus des innerlich zerrissenen Menschen Richartz nachvollziehen, den es als Reiter/Writer zu kollegialen Barbecueparties, durch den amerikanischen Uni-Betrieb und in die üblichen Hotelzimmer treibt.

Vor genau zehn Jahren, Anfang Februar, machte sich Walter E.Richartz, knapp 53jährig, auf den letzten Weg. Der zu diesem Zeitpunkt bereits viel gedruckte und vielgesendete Autor und Übersetzer, der sich - wie Uwe Herms in seiner Erinnerung an den Freud schreibt - als Fernschüler beim Funkkolleg Literatur einschrieb und als Naturwissenschaftlicher zum Treffen der Nobelpreisträger fuhr, verläßt sein Haus und sein Leben in geordnetem Rückzug. Nach einer kurzen Zugfahrt bettet er sich mit einer Flasche vergifteten Weins in der Nähe von Aschaffenburg an den Waldrand, wo er erst Wochen später gefunden wird.

In der letzten Erzählung seiner „letzten Erzählungen“, die im Haffmanns Verlag unter dem Titel Vom Äußersten erschienen sind, schreibt er: „Ein roter Vorhang weht aus dem Fenster. Ein Kind beißt sich die Zunge ab. Sie wird wieder angenäht - wenn sie warm ist, ist das Routine. Die Natur liebe ich nicht, aber ich kann mir vorstellen, wie das ist, Bäume zu lieben. Durchdrehen könnte ich, vor Glück, beim Ansehen mancher Frauen, Gesichter in Ruhe, Körper in leichter Bewegung - Duke Jordans Klavier in 'Quasimodo‘, Birds Solo in 'Koko‘. Ich beobachte meinen Sohn, bei Gelegenheiten, die mir nichts bedeuten - den versunkenen Ausdruck, das In-sich-gekrümmt-Sein, ein fast epileptisches Zittern: Er kennt es auch, das epiphane Gefühl. Gut, daß sich das vererbt. Habe ich das mit der Flamme gemeint?“

Mittlerweile ist bei Haffmanns ein weiteres Buch von Walter E.Richartz erschienen: Schöne neue Welt der Tiere, eine bitterböse Abrechnung mit den Vergehen, die der Mensch im Namen der Wissenschaft an den Tieren ausübt. Ein Band mit den Tagebüchern des ungelesenen Schriftstellers war schon für 1988 angekündigt, ist bislang jedoch noch nicht auf dem Markt. Man tut sich noch immer recht schwer mit dem dichtenden Wissenschaftler.

Gerald Jung

Taschenbücher im Diogenes Verlag:

„Das Leben als Umweg“, Erzählungen (1988)

„Tod den Ärtzten“, Roman (1969)

„Noface - Nimm was du brauchst“, Roman (1973)

„Büroroman“, Roman (1976)

„Vorwärts ins Paradies“, Essays (1979)

„Shakespeare's Geschichten“, nacherzählt von W.E.Richartz (1980)

„Reiters Westliche Wissenschaft“, Roman (1980)

Im Haffmanns Verlag:

„Vom Äußersten. Letzte Erzählungen“ (1986)

„Schöne neue Welt der Tiere“ (1987)

„Tagebücher“ (in Vorbereitung)