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Staatsanwälte büffeln in der Stabi

■ Immer mehr DDR-Bürger schmökern ihre Fach- und Lernliteratur in Westberliner Bibliotheken / Seit November 5.000 neue Leseranmeldungen in der Staatsbibliothek / Amerika-Gedenkbibliothek muß Computer nachrüsten

DDR-Bürger machen sich zunehmend in West-Berlin schlau. „Über das Rechtssystem der Deutschen Demokratischen Republik steht in den Regalen der Westberliner Bibliotheken weit mehr Literatur als bei uns“, sagt der Jurastudent Carsten aus Jena. Tag für Tag sitzt er gebeugt über einem der Arbeitstische in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (Stabi) in West-Berlin und bewältigt wahre Berge an Fachliteratur.

Das 'Neue Deutschland‘, das frühere Zentralorgan der inzwischen abgewirtschafteten kommunistischen SED, dient dabei von Fall zu Fall immer noch als Vorlage. Den darin abgedruckten Entwurf zum Wahlgesetz der DDR vergleicht der 22jährige minutiös mit dem Landes- und Kommunalwahlgesetz der Bundesrepublik. „Als künftiger Staatsanwalt mache ich mich immer wieder in der Staatsbibliothek schlau“, sagt Carsten.

So wie Carsten geht es vielen. Die Bibliotheken sind auf diesen Wissens-Run aus dem Osten nicht vorbereitet. „Wegen kaum noch zu bewältigendem Benutzeransturm“ - so ein Schild in der „Stabi“ müssen die Besucher länger an den Ausleihschaltern warten. „Seit der Maueröffnung sind bei uns 5.000 Neuanmeldungen von Bürgern aus Ost-Berlin und der DDR eingegangen“, sagt der Sprecher der Staatsbibliothek, Siegfried Detemple. Die rege Nachfrage aus dem Osten hat immerhin 180 neue Arbeitsplätze gebracht. Seit Öffnung der Grenzen am 9. November arbeiten inzwischen statt 500 nun 680 Bibliothekare. „Der Lesesaal ist durch Umbau vergrößert worden, die Bibliothekare stöhnen über die vielen Anfragen, und an der Garderobe ist es immer tierisch voll“, weiß die Geschichtsstudentin Gabi Keibel aus West-Berlin.

Auch die Amerika-Gedenkbibliothek in Kreuzberg wird von lesehungrigen DDR-Bürgern regelrecht überrannt. Weil das Computersystem den Ansturm von 600 Neuanmeldungen pro Tag nicht mehr verkraftete, mußte die Bibliothek am Montag schließen. „Die Speicherkapazität von 90.000 Anmeldungen ist erschöpft“, erklärt der stellvertretende Direktor des Hauses, Milan Bulaty.

Während der zweiwöchigen Schließung soll durch 60.000 neue Speicherplätze im Bibliothekscomputer Abhilfe geschaffen werden. Werke von bisher im Arbeiter- und Bauernstaat verbotenen Schriftstellern wie Stefan Heym oder Walter Janka seien ebenso gefragt wie Sprachkassetten und Wirtschaftsliteratur. Die Renner seien Bücher mit Tips zur Existenzgründung und Computerfachbücher.

Elke Vogel/dpa

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