: Gefahrvolle Zukunft
■ Wird das Europa von morgen mit den Mitteln von gestern gebaut?
Die politischen Ergebnisse der Außenministerkonferenz von Ottawa sind so plausibel wie gefährlich. Plausibel daran erscheint zunächst: Eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten kann nun verhandelt werden und wird - eher früher als später - vollzogen. Die beiden deutschen Staaten werden miteinander die sie betreffenden Fragen verhandeln, die vier Siegermächte sind insoweit daran beteiligt, als sie hinzugezogen werden, sobald es um Fragen geht, die sie berühren oder ihren Interessen unterliegen. Die dafür gefundene Formel heißt „Vier plus Zwei“. Das hätte eine Aufwertung der DDR bedeuten können, stünden nicht die Zeichen, die die Kohl-Regierung längst gegeben hat, Richtung bedingungslose Kapitulation. Der Genscher-Plan hätte sich also durchgesetzt, wird nun frohlockt werden. Die Bundesrepublik bleibt in der Nato, die DDR wird voraussichtlich entmilitarisiert - das ist das vorläufige Szenario.
Der Grund für die Vorläufigkeit heißt Zeitgewinn. Zwar ist allenthalben vom Ende der Nachkriegsordnung die Rede, aber genausowenig wie die politischen Kräfte in der DDR und der Bundesrepublik waren die vier Siegermächte oder die übrigen KSZE-Staaten auf den rapiden politischen Wandel in Osteuropa und den Korrosionsprozeß des Eisernen Vorhangs vorbereitet. So wird nun auf erschreckende Weise sichtbar, daß sich weltweit keine Regierung für eine Zeit danach vorbereitet hatte. Dieser erbärmliche Zustand würde nun ein Höchstmaß an politischer Phantasie erfordern, die aber - außer vielleicht bei Gorbatschow - nur als absent und also als totaler Mangel vorhanden ist. Statt dessen sind allenfalls Technokraten der Macht an der Macht, die nun die Grundlagen für eine Zukunft schaffen wollen, von der sie bis gestern nicht wußten, daß es sie geben könnte. So laufen eben nicht nur deutsch -deutsch, sondern auch international nichtsynchronisierte Prozesse ab, die qua Hektik und Verlautbarungs -Betriebsamkeit nur ein Ziel haben: den Dilettantismus zu verbergen, mit dem weltpolitisch gewurstelt wird.
Es darf keinen Zweifel geben: Ein europäisches Sicherheitssystem muß gestaltet werden, und es sollte demilitarisiert und es dürfte entmilitarisiert sein. Doch schon das steht in Frage - nicht zuletzt durch plötzliche neue oder alte (Groß-)Machtträume von Politikern. Um die Vernebelungstaktik vollkommen zu machen, werden den Menschen Begriffe um die Ohren gehauen.
Gesucht wird: eine europäische Lösung, die alle Beteiligten und Betroffenen befriedigt. An der Herstellung dieses politischen Gesamtkunstwerks müßten visionäre und begabte Profis beteiligt sein. Am Werk sehen wir aber zu viele (zu spät geborene Handlanger könnte man meinen), die teils gern, teils aus Hilflosigkeit einer obsoleten Machtpolitik anhängen. Die eigentliche Gefahr liegt also darin, daß der Griff dieser Politiker in den historischen Handwerkskasten ganz weit, nämlich bis in vordemokratische Zeiten zurückgeht, um am Ende eine Machtbalance nach lediglich Metternichschen Regeln auf der Basis eines bilateralen Gefüges herzustellen. Das wäre der Offenbarungseid. Und wieder einmal hätte niemand etwas aus der Geschichte gelernt.
Anna Jonas
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