: Eine Amerikanerin in Berlin
■ Die New Yorkerin Marcia Pally betrachtet die Berlinale
Das Nachtleben während der diesjährigen Berlinale beginnt mein weibliches Selbstwertgefühl zu unterminieren. Im letzten Jahr gab es einen Typen, der einen ganzen Abend lang versuchte, meine Hand zu bekommen - und das meine ich ganz wörtlich. (Die Leser werden sich bestimmt ausmalen können, wofür...) Dieses Jahr ist mir nur folgendes passiert:
1.
Als das Licht im Zoo-Palast ausging, bot mir ein junger Mann ein Pfefferminz an, und als ich im Dunkeln mit der Hand nach der Schachtel tastete, meinte er: „Einfach nur fühlen und drücken.“
2.
In den letzten Jahren wurde ich ständig zu Interviews vor laufender Kamera eingeladen - unter dem Motto: „Die Berlinale aus der Sicht einer Amerikanerin“. Auch in diesem Jahr kam ein Fernsehteam im Pressezentrum auf mich zu, aber die wollten nur ein paar Aufnahmen von meinem Laptop machen. Jeder ist eben nur so gut wie seine Hardware.
3.
Der einzige Typ, der mich interessant genug fand, um ein Gespräch mit mir anzufangen - mit einer zeitgemäßen Variante alter Klischees: „Was für ein Textverarbeitungsprogramm benutzen Sie eigentlich?“, entpuppte sich als ein Irrer. Mitten in unserer Unterhaltung sagte er plötzlich: „Gestern ist mir der Verbindungsstecker an meinem Computer kaputtgegangen, und da habe ich einfach die weiblichen Teile solange zusammengequetscht, bis ich wieder Kontakt hatte.“ Es war wie eine Zukunftsvision.
4.
Das beste Angebot bis jetzt: Eine junge Frau versprach mir, sie wolle mir Bratislava zeigen, wenn ich je dorthin kommen sollte.
Als ich es nach all diesen Erlebnissen endlich bis zu Aki Kaurismäkis Film Das Mädchen aus der Streichholzfabrik geschafft hatte, dürstete ich sozusagen nach Rache. Herr K. war so freundlich, mir Gelegenheit dazu zu geben. Von ihrer Familie ignoriert und von den Männern unbeachtet, macht sich das blasse Mädchen aus dem Filmtitel mit phlegmatischer Präzision daran, alle Beteiligten fertigzumachen. Der Film ist mit sparsamen Mitteln gedreht wie eine Dokumentation und besitzt den makabren Charme der Geschichte von den zehn kleinen Negerlein.
Als bessere Titel für diesen Film böten sich an: „Carmen schlägt zurück“ oder „Die Rache der Killer-Bienen“.
Bei der Programmgestaltung hat offensichtlich jemand geschlafen: Die Streichholzfabrik gehört in den Wettbewerb und nicht ins Forum und ließe sich sehr gut mit Jan Svankmajers Kurzfilm Tma, svetlo, tma kombinieren, der mit seinen Seitenhieben gegen Männlichkeitswahn die gleiche Stoß(ein Freudscher Versprecher dieser „Stoß“ oder eine kunstvolle Pointierung des Übersetzers. Fragt der Setzer.) richtung hat.
Ein vorsichtiger Blick auf die in den sechziger Jahren verbotenen Filme - sowohl die aus der DDR als auch Jiri Menzels Lerchen am Faden - läßt einen die Zukunft des mitteleuropäischen Kinos erahnen. Wenn diese Länder mit Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, steigenden Mieten und schlechter medizinischer Versorgung zunehmend in den Genuß der Vorzüge des Kapitalismus kommen, werden die Tschechen immer mehr witzige Komödien drehen, während die Deutschen sich in düsteren Schwarzweißbildern ergehen werden.
DDR-Filme kämen damit wohl eher für die Filmkunsttheater in Frage, und die tschechischen Filme werden sich in geradezu idealer Weise für amerikanische Remakes anbieten. Man stelle sich die Lerchen in einer neuen Besetzung mit Richard Gere und Debra Winger auf einem amerikanischen Militärstützpunkt vor! Übersetzung: Hans Harbor
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