piwik no script img

Bauernfängerei

Diepgen als feuriger Wahlkämpfer in Ost-Berlin  ■ K O M M E N T A R

So kennt man den Mann doch gar nicht mehr: Sollte der, der da mit äußerst modulationsreicher Stimme, mit rollenden Augen, weit ausholender Gestik, der sich dramatisch die Hand aufs Herz legt, gekonnt seine Pausen setzt und dann zum donnernden Finale ansetzt - sollte das unser Oppositionsführer Eberhard Diepgen sein? Das Diepgen, das sich in West-Berlin verzweifelt darum bemüht, von der Öffentlichkeit überhaupt noch wahrgenommen zu werden, erlebt in diesem milden Winter einen neuen Frühling im DDR -Wahlkampf. Im Westen trat Diepgen in letzter Zeit kaum in Erscheinung, der vielbeschworene Hauch der Geschichte hat ihn links liegen lassen. Sein Vorstoß, am 6. Mai Gesamt -Berliner Wahlen stattfinden zu lassen, verhallte bis jetzt fast ungehört. Dahinter steht die unausgesprochene Hoffnung, in einer solchen Wahl endlich wieder auf die Seite der Macher der Geschichte zu treten, als neuer Oberbürgermeister von ganz Berlin. Welche Labsal muß es für seine gequälte Seele sein, wenigstens im Ostteil der Stadt aus König Mompers Schatten herauszutreten und auf gläubige Ohren zu stoßen - auch wenn die Ost-CDU, nüchtern betrachtet, kaum Erfolgschancen bei den Wahlen hat. Im Osten läßt sich Diepgen feiern wie ein König und als künftiger Landesvorsitzender der Gesamt-Berliner CDU. Ob in Frankfurt, am Alex oder in Weißensee: Diepgen läuft im Wahlkampf zu Höchstformen auf, kann mit Parolen, die im Westen niemand mehr hinter dem Ofen vorlocken, Punkte sammeln. Freiheit statt Sozialismus - darauf springen die DDR-Bürger allemal an, wen stören da Tautologien wie „Wir sind ein Volk, weil wir zusammengehören“. Diepgen schlägt im DDR-Wahlkampf Töne an, die dem Wahlvolk von den eigenen Politikern noch fremd sind. Ungerührt von der anrüchigen Vergangenheit der Ost-CDU und deren Schwierigkeiten mit der Demokratie, prescht er nach vorn und verspricht den DDR-Bürgern mit den Wunderheilmitteln Marktwirtschaft und Einheit die Lösung all ihrer Probleme. Indem immer wieder die ach so bewundernswerte Revolution unserer Landsleute gepriesen wird, kann das eigene Wahlziel kaschiert werden: als Wiedervereinigungspartei und -bürgermeister in die Geschichte einzugehen. Bauernfängerei nennt man so etwas, auch bei Großstädtern.

Kordula Doerfler

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen