: Nordisches Fieber
■ Eine Erzählung von Felicitas Hoppe
Als der Rechtsanwalt mich um meine Hand bat, schlug ich sofort ein, denn er war zwar ein wenig kleiner als ich, aber keineswegs breit, trug keinen Schnurrbart, hatte dichtes kurzgeschnittenes Haar, das ihm ständig zu kraulen er aber nicht zu verlangen schien, eine näselnde aber beharrliche Stimme, leicht geschlitzte schlaue Augen, denen man ihre Schläue allerdings ansah, lange schmale Hände, die in keiner Weise zu seinem Körper paßten, ein etwas größeres linkes Ohr und schwarze Lackschuhe, kurzum: Er war mir fremd und versprach es mir zu bleiben. Damals war ich schön, und er hatte ein Auge auf mich und eines auf den Rest der Welt, er war vorsorgend und hatte ein großes Haus mit einer kräftig begrünten Terrasse, in dem ich auf und ab gehen konnte, ohne jemals unvorbereitet gegen allzu dicht aufeinanderstehende Gegenstände zu stoßen.
Unsere Kinder wuchsen auf, und er fand nichts daran zu bemängeln, hatte weder gegen Klavierstunden noch andere Spielereien etwas einzuwenden, denn er stand gut im Geschäft. Ich saß im Schatten der großen Bäume und sehr grüner Büsche, die anzupflanzen äußerst mühsam gewesen war und die nur durch ständige und sorgfältige Bewässerung am Leben gehalten werden konnten. Ich hätte sie selbst gegossen, er aber schwor auf Gärtner, hatte sogar eine Art seltsam anmutende Vorliebe für Gärtner, vor allem für jene, die wenig sprechen. Davon gab es im Haushalt in der Regel zwei.
Einmal pro Woche, dies waren die Mittwoche, konnten in seltenen Ausnahmefällen aber auch die Freitage sein, obgleich der Rechtsanwalt die Freitage wegen einer, wie er sagte, überzogenen Betriebsamkeit nicht mochte, fuhren wir gemeinsam in die Hauptstadt, um dort unsere Einkäufe zu erledigen, und bevor wir zurückkehrten, unterließen wir es niemals, in einer der zahlreichen Bars zwei oder drei Getränke verschiedener Farben zu uns zu nehmen, sie waren kühl, erfrischend und beruhigend zugleich, und wir rauchten schweigend. Ich verspürte keine Neigung, mich zu beschweren. Er hatte das Einsehen, mich nicht mit Hausarbeiten größeren Ausmaßes zu behelligen, und ich verspürte darüber trotz aller Selbstverständlichkeit durchaus eine gewisse Dankbarkeit, obwohl mich meine Dankbarkeit nie hingerissen hat, auch kann ich mich nicht erinnern, ihm jemals zu Füßen gelegen zu haben, wir schliefen mit dem Kopf zur Wand und zeugten auch die Kinder mit dem Kopf zur Wand, und ich fand nichts daran zu beanstanden. Später, als ich begann, den Milchlieferanten aus einer größeren Langeweile ein wenig zu lieben, sorgte der Rechtsanwalt für einen Unterschlupf im dritten Obergeschoß des Hauses, von wo aus man, aus dem Fenster blickend, die Bäume sehen konnte und nichts vernahm als das Gackern eines Huhns in der Nachbarschaft, was den Milchlieferanten mehrere Male zu einem eigenartigen Kichern veranlaßte, so als stecke ihn das Gackern des Huhns manisch an, ansonsten war es totenstill, und als der Milchlieferant wenig später auf der Straße umfiel, ein Windstoß mußte ihm ins Genick gefahren sein und ihn empfindlich getroffen haben, so daß er nicht mehr recht atmen konnte, hörte man nur noch das Gackern des Huhns. Ich schloß das Zimmer ab und gab dem Rechtsanwalt den Schlüssel, den er in eine Schublade im ersten Obergeschoß legte, worauf wir in die Hauptstadt fuhren, unsere Einkäufe zu erledigen, denn es war Mittwoch.
Später, in einer dunklen und ein wenig stürmischen Novembernacht, eroberten die Kinder das Zimmer. Das Mädchen wollte das Huhn retten, das es auf dem Dachboden des Nachbarhauses eingesperrt wähnte, und versuchte, den Jungen zu zwingen, ein Loch in die Wand zu bohren, was jedoch mißlang. Und in der Tat erinnerte ich mich erst jetzt, daß der Rechtsanwalt mir, nachdem die letzten Gäste schließlich abgereist waren und uns nichts anderes mehr zu tun übriggeblieben war, als die Hochzeitsnacht zu begehen, gesagt hatte: Meine Liebe, dieses Haus ist solide. Man hört wirklich nichts. Du wirst dich hier wohlfühlen. Das Mädchen gab das Huhn sehr bald auf, überhaupt zeichnete es sich durch eine ihm eigene Gleichgültigkeit aus, es zog den Garten dem Haus vor und verbrachte Stunden damit, den Gärtnern bei ihrer trägen Arbeit zuzusehen. Der Junge hingegen versuchte mit einigem Eifer, wiederholt in das Zimmer einzudringen, aber der Rechtsanwalt hatte jetzt ein Schloß vorgehängt, das er erst entfernte, als ich das Bedürfnis empfand, mich für einige Zeit mit einem jüngeren Klavierlehrer dorthin zurückzuziehen. Kurz darauf fiel diesem beim Spiel einer Mazurka bei geöffnetem Fenster der bleischwere Klavierdeckel auf beide Hände, und er gab das Spiel auf, da ihm zwei Finger der linken und der Daumen der rechten Hand steif blieben. Das Mädchen, das vom Fenster aus unbemerkt, jedoch enthusiastisch für den Klavierlehrer geschwärmt hatte, vergoß keine Träne, der Junge hingegen bedauerte den Verlust des Lehrers, denn er hatte längst begonnen, die Schlüssellöcher des Hauses für sich zu entdecken. Der Rechtsanwalt schloß das Zimmer jetzt nicht mehr ab, ließ im Gegenteil den Baum im Garten abhauen, so daß ein heißes Licht in das kleine Zimmer flutete, öffnete die Tür ziemlich weit und machte es damit zu seinem sogenannten Klientenruheraum, da seine Geschäfte besser geworden waren, seine Klientenschar darum größer und nervöser und das schattige Wartezimmer im Erdgeschoß sie in eine niedergedrückte Stimmung zu versetzen drohte. Mir richtete er ein Zimmer im zweiten Obergeschoß ein, stellte einen geblümten Diwan in die Ecke, hängte einen Vogel unter die Decke und versah die Fenster mit neuen Vorhängen.
Das Mädchen, das im darauffolgenden November schwere Träume bekam, zog es nun vor, bei Vollmond seinerseits auf dem Diwan zu schlafen und behauptete, nur dort sich nicht zu fürchten, und da ich auf nichts zu beharren pflegte, trat ich den Diwan ab und lag nur noch sehr selten darauf, den Kopf zur Wand und die Füße zum Fenster, während ich ein Buch durchblätterte oder eine Zeitung neben mir auf dem Boden liegen hatte. Im Frühjahr darauf begann der Junge, das Mädchen zu umschleichen, zog ihr die Füße vom Diwan und zog dem Vogel ein paar Federn aus, was diesen in seinem Gesang aber nicht beeinträchtigte, der Gerechtigkeit halber stellte aber der Rechtsanwalt einen zweiten, gleichfalls geblümten Diwan in das Zimmer, worauf das Mädchen das Zimmer nicht mehr betrat. Er sorgte aber für keinen Ersatz, und es war dies das erste und übrigens das einzige Mal in meinem Leben, daß ich ihn ein ungewohntes Wort sagen hörte, das nicht zu ihm paßte, ein Wort etwa wie „Erziehungsmaßnahme“. Im Herbst des darauffolgenden Jahres bekam das Mädchen ein Fieber, das Fieber war heftig, nordisches Fieber, sagte der Rechtsanwalt, und er sagte es, als trüge er eine Anklage vor. Das Mädchen verlangte den geblümten Diwan, wollte aber den Jungen nicht sehen und starb so in seinem eigenen Bett und zwar drei Tage später.
Wir fuhren, es war Freitag, in die Hauptstadt, um Einkäufe zu erledigen und kauften einen kleinen, zierlichen Sarg, an dem der Rechtsanwalt keine Kosten sparte. Jedoch bestand er auf der eigenartigen Inschrift: Sie starb am nordischen Fieber. Wenige Tage vergingen, und die Schläue kehrte in seine Augen zurück. Er stellte einen weiteren Gärtner eigens zur Pflege des Grabes ein, schloß die neue Klientenruhekammer wieder ab und gab mir den Schlüssel. In der Tat war der neue Gärtner jung und gemütvoll, im Schlaf stöhnte er leise, als sei er noch immer bei der Arbeit, und wenn ich gut gestimmt war, tupfte ich ihm im Schlaf die Schweißperlen von der Stirn. Beim Ausheben eines anderen Grabes, man erzählte sich später, er habe, einem eigentartigen Impuls folgend, den Totengräbern des Ortes helfen wollen, denn es sei ein ungewöhnlich heißer Tag gewesen und die Arbeit der beiden schon ein wenig älteren Männer mühsam, traf ihn ein kleiner, aber sehr spitzer Stein, und er fiel um. Der Rechtsanwalt verzichtete daraufhin auf die Einstellung eines weiteren Gärtners und begann sogar, das Grab bisweilen selbst zu besorgen.
Den Jungen sah man selten zu Haus in diesen Tagen. Der Rechtsanwalt hatte ihm ein Pferd gekauft und einen dazu passenden Reitlehrer, und die beiden blieben manchmal ganze Tage aus. So hatten wir niemanden, mit dem wir den langen Mittagstisch hätten teilen müssen, und wir speisten in Schweigen und Frieden. Der Reitlehrer kam aus dem Norden und war ein sehr gesprächiger Mann, was die Tafelrunden, sofern er anwesend war, in ihrer Gleichmäßigkeit störte. Er pflegte auch laut bei Tisch mit dem Jungen zu plaudern, erzählte kürzere Anekdoten und längere Geschichten, die er vollkommen unbekümmert heiter und ohne Stocken vortrug, sprach sogar im Garten mit den Gärtnern, die ihm nie antworteten, was ihn aber keinesfalls zu entmutigen schien. Er hatte ein merkwürdig in Falten geschlagenes, aber sehr junges Gesicht und liebte die Pferde über alles. Dem Jungen brachte er gutmütig allerlei bei, was ihm aber wenig Dank eintrug, zumal der Junge bald besser ritt als sein Lehrer, diesem aber machte es Freude, sich manchmal absichtlich von seinem Schüler überholen zu lassen. Wenn wir uns in das Zimmer unter dem Dach zurückzogen, erzählte er mir beim Gackern des Huhns, das Hühner im eigentlichen Sinne keine Tiere seien, ein wirkliches Tier habe einen Charakter, die Hühner aber seien charakterlos, und wer einmal den Charakter der Pferde gekostet (ja, so sagte er wirklich!), komme davon für den Rest seines Lebens nicht mehr los. Ein wenig liebte er aber auch mich, bis man ihn eines Morgens im Garten fand mit einer langen Spore im Hals, als habe er sich an einer Gräte verschluckt.
Der Junge forderte einen neuen Reitlehrer, er brauche Ersatz, und zwar sofort, aber der Rechtsanwalt schwieg sich so lange aus, bis der Junge davonritt. Zwei Monate später kehrte das schlammbedeckte Pferd ohne den Jungen zurück. Der Rechtsanwalt fuhr in die Hauptstadt, es war ein Donnerstag, und beauftragte eine Kommission, den Jungen zu suchen und zu finden. Sie fanden ihn drei Monate später. Unter diesen Umständen sah der Rechtsanwalt sich gezwungen, erneut einen Gräbergärtner einzustellen, der in der Tat ein Fachmann war und in wenigen Wochen die Grabanlage in ein schmuckes kleines Prachtstück verwandelte. Der Rechtsanwalt schätzte ihn sehr, zahlte ihn großzügig, und man kann sagen, daß er zu seinem Lieblingsgärtner wurde. Ich mochte ihn kaum und zog es in dieser Zeit vor, meine Mahlzeiten in der Küche einzunehmen, wenn der Gärtner mit am Mittagstisch saß, was nicht selten vorkam. Eines Tages jedoch drängte er sich an der Köchin vorbei in die Küche und goß mir einen Rest heißer Suppe über die Hand, so daß ich mich in meinem Zimmer unter dem Dach einschloß und es nur noch selten verließ. Eines nachts schließlich legte er die Leiter an und stieg zu mir herein. Ich forderte ihn auf, die Leiter unverzüglich wieder hinabzusteigen, statt dessen lachte er und stieg in mein Bett, während ich die Schritte des Rechtsanwalts deutlich auf der Treppe hörte. Der Rechtsanwalt öffnete die Tür, trat an mein Bett, forderte den Gärtner auf, sich zu erheben, was dieser tat, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken, geleitete ihn zum Fenster, stürzte ihn von der zweiten Sprosse hinab, drehte sich um, kam langsam zum Bett hinüber, und indem er seine langen Hände auf die Bettdecke legte, sagte er: Meine Liebe, möchtest du nicht eine Reise machen? Ich nickte.
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