: Eine Art später Rehabilitation?
■ Heidemarie Hathayer spielt die Rentnerin "Martha Jellneck" ebenso überzeugend wie einstmals ihre Rollen in NS-Filmen
Hamburg, Bramfelder Chaussee 13, Ecke Mendelsohnstraße. Eine unwirtliche Gegend mit viel Durchgangsverkehr. Im dritten Stock wohnt Martha Jellneck (Heidemarie Hatheyer). Der Film beginnt, als sich die arthrosegeplagte Rentnerin unter großen Mühen aus dem Bett wuchtet. Schwer geht der Atem, und man spürt, daß ihr gerade morgens die kranken Gelenke zu schaffen machen. Ein karges Frühstück, dann Chico, den Hund, füttern und ein Blick auf die Küchenuhr: Halb zehn ist es erst.
Noch lang hin also, bis Thomas (Dominique Horwitz), der Zivi mit den Segelohren vom „Menuedienst“, die warme Mahlzeit bringt. Für Martha ist Thomas ein Außenkontakt, genau wie der pfiffige Türkenjunge Hayati (Hayati Yesilkaya), der sich durch Gassi-Gehen mit Chico das Taschengeld aufbessert, und Hanne Schmitz (Angelika Thomas), die Nachbarin, die für die alte Frau die Einkäufe erledigt.
Mit stillen, schönen Bildern erzählt der Erstling des erst 29jährigen Regisseurs Kai Wessel von der Einsamkeit dieser alten Frau, den Widrigkeiten ihres Alltags und ihren Selbstgesprächen. Kein Zweifel: Martha Jellneck (20.15 Uhr, ARD) gelingt es, das Ergebnis umfassender Recherchen zum Einzelporträt zu verdichten. Beate Langmaack, die auch die detailgenaue Ausstattung des Films besorgte, hat für ihr Skript den „Europäischen Drehpreis“ erhalten.
Doch, so die Hypothese, nicht nur ein feines Gespür für das Detail hat die Juroren überzeugt, sondern auch der Umstand, daß dieser Film kippt, daß aus der einfühlsamen Milieustudie unvermittelt ein spannender Polit-Krimi erwächst. Auf einem Werbeprospekt entdeckt Martha zufällig das Foto eines Mannes, der den Namen ihres im Krieg verschollenen Halbbruders trägt. Mit der Unterstützung Hayatis und eines Vergrößerungsglases wird die alte Frau zum Detektiv in eigener Sache.
Ihre alten, vergilbten Schwarzweißfotografien werden unter die Lupe genommen, die Feldpost des Halbbruders wieder und wieder gelesen, solange, bis sich eine Annahme ergibt, deren Wahrhaftigkeit an der Realität überprüft werden muß.
Ein nie geklärtes Kriegsverbrechen, aufgerollt aus der Perspektive einer scheinbar wehrlosen, alten Frau - Martha Jellneck verläßt sich auf die Stimmigkeit der Story, bei vergleichsweise unspektakulären Mitteln und weiß das großkopferte Thema Vergangenheitsbewältigung derart einzudicken, daß es in die ärmliche Zwei-Zimmer-Wohnung projiziert werden kann. Die Story ist dabei nur das eine Standbein. Die mittlerweile 76jährige, als Geierwally (1940) in die Filmgeschichte eingegangenen Heidemarie Hatheyer brilliert in der Rolle der einsamen Rentenempfängerin. Doch die Glaubwürdigkeit und die Intensität, mit der sich die Hatheyer in der schäbigen Wohnküche bewegt, wie sie perfekt den kräftigen Akzent einer Böhmen-Deutschen spricht, all das ist geradezu von einer erschreckenden Professionalität. Erschreckend, weil jene Frau ebenso intensiv und überzeugend in Filmen angesehener NS-Regisseure aufgetreten war.
Hans Steinhoff, der mit Hitlerjunge Quex 1933 - neben Veit Harland Jud Süß - wohl den populärsten Agitationsfilm geliefert hatte, profitierte bei seiner Geierwally genauso von der Schauspielkunst der Hatheyer wie Wolfgang Liebeneiner. In dessen Ich klage an, einer der Filme, die 1941 der Euthanasie-Gesetzgebung der Nationalsozialisten den Weg bereiten sollten, spielte die damals 23jährige eine Frau, die von ihrem Mann, da unheilbar krank, aus Mitleid vergiftet wird.
Wie ist das zu verstehen? Martha Jellneck, der späte Versuch einer schauspielerischen Rehabilitation oder einfach eine weitere Rolle in der Vita einer professionellen Schauspielerin?
Friedrich Frey
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