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Kohl will kalten Anschluß der DDR

Der Kanzler befürwortet im Verbund mit der DDR-„Allianz“ den Beitritt der DDR zum Grundgesetz statt einer verfassungsgebenden Versammlung / Kohl-Interview in der „Aktuellen Kamera“: „Frage der Einheit jetzt nicht mit einer Veränderung der Grenzen verbinden“  ■  Aus Bonn Charlotte Wiedemann

Bundeskanzler Helmut Kohl will die Wiedervereinigung durch den schlichten Beitritt der DDR zum Grundgesetz vollziehen und nicht über den Umweg einer verfassungsgebenden Versammlung. Ein Verfahren nach Artikel 23 des Grundgesetzes, das den Beitritt „anderer Teile Deutschlands“ vorsieht, war bisher schon von den Ministern Schäuble und Waigel befürwortet worden. Kohl legte sich gestern erstmals öffentlich fest: auf einer gemeinsamen Bonner Pressekonferenz mit den drei DDR-Parteivorsitzenden der konservativen „Allianz“, die den schnellen Beitritt zum Grundgesetz in ihrem gestern veröffentlichten Wahlaufruf festgeschrieben hat.

Das Verfahren nach Artikel 23GG „bietet sich an“, so bekräftigte Kohl die Forderung seiner Bruderparteien, und wies die Bezeichnung „Anschluß“ sogleich zurück. Die Angleichung des Rechtssystems der DDR werde dadurch „nicht automatisch mit einem Federstrich erledigt“. Die von den Sozialdemokraten in BRD und DDR mehrheitlich befürwortete Alternative einer verfassungsgebenden Versammlung, die von beiden Parlamenten oder durch Direktwahl bestimmt werden könnte, lehnte der Ost-CDU-Vorsitzende Lothar de Maiziere mit folgender Begründung ab: Ein derartiger Weg zur deutschen Einheit werde „Monate, wenn nicht Jahre“ beanspruchen. Ob hingegen ein Grundgesetz-Beitritt der DDR erst nach dortigen Landtagswahlen erfolgen kann, wie es einige Verfassungsjuristen vertreten, ließ der Bundeskanzler gestern ausdrücklich offen. Die weiteren Schritte zur Wiedervereinigung sollten nach dem Motto „schnell voranmachen, aber solide, nicht in Hektik“ erfolgen. Kohl zeigte sich zugleich „überzeugt“, daß die Bundestagswahl am 2. Dezember noch stattfinden werde. Anderslautende Prognosen seien „falsch“.

Die Vertreter der DDR-„Allianz“ bemühten sich gestern ebenso wie Kanzler Kohl, die sozialen Ängste in beiden deutschen Staaten zu beschwichtigen. Wolfgang Schnur, Vorsitzender des „Demokratischen Aufbruchs“: „Wir wollen unseren Wohlstand selbst erarbeiten und keine Milliardengeschenke. Herr Lafontaine kann sein Geld behalten.“ Entsprechend konnte es Helmut Kohl wie bisher beim vagen Versprechen einer „Anschubfinanzierung“ für Renten- und Arbeitslosenversicherung der DDR bewenden lassen. Und ob die Sparguthaben von DDR-Bürgern zum Wechselkurs 1:1 gesichert werden, wie es die „Allianz“ fordert, ließ Kohl vorsichtshalber offen. Er habe „Verständnis“ für diese Forderung, aber niemand könne erwarten, „daß der Bundeskanzler mitten in Verhandlungen mit der DDR über die Währungsunion dazu Stellung nimmt“. Während sich der Kanzler nicht in die Wahlversprechen der „Allianz“ einbinden lassen mochte, ließ sich die „Allianz“ sehr wohl auf den Eiertanz des Kanzlers um die polnische Westgrenze ein. Nachdem Kohl gestern Fortsetzung

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noch einmal bekräftigte, daß er den polnischen Vorschlag eines Anerkennungsvertrags „nicht akzeptiert“, echote sein DDR-Pendant Lothar de Maiziere: „Ich wüßte nicht, welchen Vertrag man auf die bestehenden Verträge noch draufsetzen sollte.“ Der Bundeskanzler machte zugleich deutlich, daß er weiterhin nicht von der Auffassung abrückt, die Grenzfrage sei erst „durch ein gesamtdeutsches Parlament und eine gesamtdeutsche Regierung zu regeln“. Auf Nachfrage nahm Kohl sogar ausdrücklich den Vertriebenenfunktionär Czaja in Schutz, der tagtäglich gegen „polnische Maximalforderungen“ hetzt. Niemand, so behauptete Kohl, stelle die polnische Grenze in Frage, und

wer dies von Czaja behaupte, werde ihm „nicht gerecht“.

In einer Sondersendung der Aktuellen Kamera des DDR -Fernsehens hatte Kohl am Mittwoch abend ebenfalls klargemacht, daß er den Vorschlag des Warschauer Ministerpräsidenten Tadeusz Mazowiecki ablehnt, beide deutschen Regierungen sollten vor der Wiedervereinigung bereits einen Grenzvertrag aushandeln, der dann von einem gesamtdeutschen Parlament ratifiziert wird. Dieses Vorgehen hatte Bundesaußenminister Genscher als gangbaren Weg bezeichnet. Kohl sagte, sollte Genscher den Vorschlag Mazowieckis befürworten, so gebe es einen Unterschied zu seiner eigenen Position. Er, Kohl, habe jedoch keinen Einwand dagegen, wenn die Volkskammer nach den DDR-Wahlen eine ähnliche Resolution wie der Bundestag im vergange

nen Jahr verabschiede.

Der Kanzler fügte hinzu: „Aber ich glaube nicht, daß das in Tat und Wahrheit ein wirkliches Problem ist... Die Frage der Einheit unserer Nation, der Deutschen, ist keine Frage, die wir jetzt mit einer Veränderung der Grenzen verbinden.“

Am Donnerstag brachte Frankreichs Außenminister Roland Dumas bei einem Besuch in West-Berlin die französische Unterstützung für die deutsche Einheit zum Ausdruck, machte aber zugleich unmißverständlich klar, daß er die Oder-Neiße -Grenze für unantastbar halte.

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