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Der Buhmann von Greifswald

■ Ein DDR-Minister legt sich mit seiner Heimatstadt an / Der schwierige Weg des Sebastian Pflugbeil auf der Suche nach einer neuen Energiepolitik

Bärbel Petersen

Jawoll, ich bin die Mutter!“ Ein Schildchen mit dieser Zeile will sie sich in ihrem heimischen Greifswald bald um den Hals hängen. Immer mehr Greifswalder fragen sie, ob sie mit jenem Pflugbeil verwandt ist, der diese Stadt seit einigen Wochen in helle Aufregung versetzt. Im hauptstädtischen Berlin, 180 Kilometer von Greifswald, fordert er am Runden Tisch die sofortige Stilllegung des Atomkraftwerkes Lubmin. Rasant verbreitet sich diese Nachricht. Protesttelegramme und -briefe hageln auf den ein, der das verkündet: Sebastian Pflugbeil, Mitbegründer des Neuen Forums und zur Zeit Minister ohne Geschäftsbereich. Einen Tag nach seinem historischen Auftritt reist der Energieexperte selbst nach Greifswald. Bei diesem Besuch schlagen ihm Wellen des Hasses entgegen. Auf einer schnell inszenierten Pro-AKW -Demonstration entlädt sich der Zorn über die ungeliebten Wahrheiten. Während 4.000 aufgebrachte Atomwerker draußen Pflugbeils Kopf fordern, sitzt der gepeinigte Minister drinnen mit dem angereisten bundesdeutschen Expertenteam zusammen, blättert in kraftwerksinteren Unterlagen und versucht Eckpunkte für eine Sicherheitsstudie abzustecken. Als sich der Minister nach zwei harten Sitzungsstunden den Demonstranten stellen will, haben sich diejenigen Schreihälse bereits wieder in ihren warmen Betonnischen verkrochen, die kurz zuvor „Minister Pflugbeil verheizen“ wollten. Nur am Mikrofonwagen wartet noch ein Dutzend erregter Diskutanten. Den haltenden Lada des Ministers nimmt niemand wahr. Erst als der zierliche, vollbärtige Mann mitten in der Gruppe steht, wird der große Buhmann identifiziert. Ruhig hört er sich ihre Vorwürfe an, unterbricht keinen und antwortet erst, als auch der letzte Dampf abgelassen hat. „Wir sind auf der Suche nach der Wahrheit“, hält Pflugbeil ihnen entgegen, „und wir werden für die Greifswalder eine Lösung finden, wenn die Blöcke aus sicherheitstechnischen Gründen abgeschaltet werden müssen.“ Die norddeutsche DDR-Presse scheut sich am nächsten Tag nicht, dem Minister Feigheit vorzuwerfen.

Oratorien und Kantaten

statt Atomkraftwerken

Zwei Wochen später geht er in seinem Greifswald erneut in den Ring. Diese Stadt ist für ihn nicht nur wegen der morschen Atommeiler eine Herausforderung. In dieser Stadt ist er aufgewachsen und zur Schule gegangen. Hier studierte er Physik genau in der Zeit als das Atomkraftwerk vor seine Haustür gesetzt wurde. Der Name Pflugbeil ist in Greifswald bekannt. Mit Atomkraftwerken wurde er bisher allerdings nicht in Verbindung gebracht. Stattdessen erschallen seit über 40 Jahren im Juni zur Greifswalder Bachwoche Oratorien und Kantaten - undenkbar ohne die Pflugbeils. Mutter Pflugbeil, inzwischen über 70 und nach wie vor auf den Tasten virtuos präludierend, erzählt vom September 1947. Hochschwanger kletterte sie nach einem Konzert auf den Kirchturm. Stunden später kam der „Minister“ zur Welt. Die politische Karriere ihres Sohnes überrascht sie nicht. „Er ist zwar wortkarg, aber weitblickend. Er denkt lieber zweimal nach bevor ein Wort über seine Lippen kommt“, lautet ihr Qualitätsurteil. Heute will sie ihrem Sohn in der Greifswalder Mensa den Rücken stärken. Das NDR-Fernsehen hat eingeladen, um vor aller Augen die Hiobsbotschaften der letzten Wochen kontrovers zu diskutieren. Mutter Pflugbeil ist froh, daß ihr Sohn endlich die Sorgen und Ängste um das Atomkraftwerk auf den Tisch packt.

Konfliktscheu ist Pflugbeil nie gewesen. Schon in der Schule hat er sich eingemischt. Während seines Studiums leitet er mehrere Jahre die Seminargruppe als FDJ-Sekretär ohne anfangs diesem Verband (Freie Deutsche Jugend) anzugehören. 1971 wechselt er nach Berlin an die Akademie der Wissenschaften, Institut für Herz-Kreislaufforschung. Er organisiert dort die FDJ-Arbeit, setzt sich für junge Kollegen ein, wenn arbeitsrechtliche Probleme anstehen. Schwierig wird es vor den Jugend-Weltfestspielen 1973. Die Parteileitung beobachtet argwöhnisch Pflugbeils FDJ -Aktivitäten. Er registriert enttäuscht, daß junge Kollegen voller Enthusiasmus ans Institut kommen und nach Mißerfolgen und Mißachtungen resignieren. Pflugbeil versucht Einfluß auf den Gang der Dinge zu nehmen. Zu einer Zeit als noch sehr wenig Informationen über die Folgen von Atomwaffen und ihre Tests in die DDR-Öffentlichkeit dringen, hält er Mitte der siebziger Jahre Vorträge über deren Gefährlichkeit. Er erinnert sich noch sehr genau an das Credo eines Offiziers der Nationalen Volksarmee bei einem Marxismus/Leninismus (M/L)-Seminar. Der erklärt, daß der atomare Erstschlag nicht ausgeschlossen ist, wenn Errungenschaften des Sozialismus bedroht sind. Pflugbeils Protest gegen diese These verhindert seine Promotion. Der M/L-Schein, den alle DDR -Doktoranden für die Verteidigung nachweisen müssen, bleibt ihm verwehrt. Auch im zweiten Anlauf schafft er die M/L -Hürde nicht. Seine beiden Kollegen promovieren ohne ihn. Erst jetzt, acht Jahre später, soll auch der „Fall Pflugbeil“ korrigiert werden: Der Minister kriegt seinen Titel.

Als Anfang der achtziger Jahre auch die DDR ein Zufluchtsort für sowjetische Mittelstreckenraketen wird, verstärkt Pflugbeil seine rhetorischen Aktivitäten. Er reist in die Stationierungsorte, referiert meist in Kirchen über die Schrecken der Atombombe, über den Zusammenhang zwischen Atomwaffen und Atomenergie und über den Uranabbau in der DDR. Dann konstituiert sich unter dem Dach der Kirche die Arbeitsgruppe „Ärzte für den Frieden“. Berater ist Sebastian Pflugbeil. Im September 1983 bringt er wieder die Institutsparteileitung auf Trab. An einer Wandzeitung hängt er Fotos aus Hiroshima auf und versieht sie mit Texten berühmter Ärzte und Wissenschaftler. Einen Tag später müssen die Bilder und Texte verschwinden. „Hiroshima ist doch überholt“, so die offizielle Begründung. Gleichzeitig droht die Leitung, die aufmüpfige Physiker- und Mathematikergruppe um Pflugbeil auseinanderzusprengen und im Institut zu verteilen. Pflugbeil gibt nach: Verständliche Angst siegt vor Courage.

Eine ganz individuelle

Anzugsordnung

Eine gehörige Portion Courage braucht der Minister vom Neuen Forum auch noch nach der Wende, zum Beispiel an diesem Abend in Greifswald. Buh-Rufe und Pfiffe empfangen den engagierten Ex-Greifswalder in der überfüllten Mensa. Im Publikum dominieren Beschäftigte des Atomkraftwerks, die um ihre Arbeitsplätze bangen. Ein wenig hilflos und unsicher sieht er sich einer grölenden Meute gegenüber, die in ihm den Hauptschuldigen für ihren sozialen Abstieg ausmacht. Pflugbeil versteht die Zukunftsängste der Greifswalder. „Doch Arbeitsplatz- und Wohnungswechsel“, so der Minister, „gehören ab sofort überall in der DDR zum Alltag, besonders bei den Braunkohlekumpeln und bei den Chemiearbeitern.“ Solch brisante Aussagen werden bei ihm rein äußerlich nur wenig von ministrabler Autorität getragen. Pflugbeils Erscheinungsbild läßt an diesem Abend eher einen in die Jahre gekommenen Studentenrevoluzzer vermuten. Er legt keinen Wert auf die Uniformiertheit seiner Politikerkollegen. Sein „guter“ Anzug, der seit 20 Jahren im Schrank alle modischen Trends unbeeindruckt überstanden hat, ist beim Bonn-Besuch auf internationalem Parkett nicht nur von Freunden bewundert worden. Im nachhinein glaubt er nicht, daß es sich gelohnt hat, den dunklen Anzug auszubürsten. Mit Bitterkeit erwähnt er die Bonner Gespräche, bei denen Kohl „kein Anstandsgefühl“ gezeigt habe und der Eindruck eines „Erpressungsversuches“ entstanden sei.

Heute in Greifswald trägt er das, worin er sich wohlfühlt ein „umstrittenes“ Sakko, eine sehr legere, dunkle Hose und den unvermeidlichen weinroten Westover. Leicht nach vorn gebeugt, den Blick gesenkt, nimmt er Kurs auf einen der drei Stehtische, an denen diskutiert werden soll. Sich selbst treu, vertritt er auch hier seine Forderung nach Sicherheit und Abschalten. Unvermutete Schützenhilfe hat er tags zuvor von BRD-Reaktorsicherheitsminister Töpfer erhalten. Der Minister aus dem Westen empfahl, Block zwei und drei abzuschalten. Die DDR-Atomchefs reagierten prompt und knipsten den zweiten Block vorerst aus. Beim Minister Ost wird gebuht, beim Minister West wird gekatzbuckelt. Doch dem Interregnum-Minister vom Neuen Forum reicht die Teilstillegung nicht. Er sieht auch in den andren Reaktorblöcken eine permanente Bedrohung.

Sebastian Pflugbeil vertraut seinem Instinkt. Die Bewahrung der Schöpfung und die Ehrfurcht vor dem Leben treiben ihn nach der Tschernobyl-Katastrophe dazu, über andere Energiequellen nachzudenken. Er weiß und spricht es aus, daß „die friedliche Nutzung der Atomenergie eine unglücklich lange Verkettung von Lügen ist - die Lüge, der Abwurf der Atombombe in Japan habe den Krieg beendet, die Lüge, der Atomwaffentest sei ungefährlich für die Umgebung, die Lüge, über die Zäune der Atomanlagen würde keinerlei Radioaktivität gelangen, die Lüge, radioaktive Strahlen seien nicht gefährlich und die Lüge, daß man nicht wisse, daß Krebs und Strahlenbelastungen zusammenhängen“.

Illegal fertigt Pflugbeil mit seinem Freund, Joachim Listing, eine Studie zur Energiesituation in der DDR an. Zwei Jahre werkeln sie mit Schere und Klebstoff, werten Fachliteratur und Fachzeitschriften der letzten 15 Jahre aus. Pflugbeil drängt die Kirchenleitung, ihren Standpunkt zur Atomenergie klar zu definieren. So wird der Bund der Evangelischen Kirchen, vor der Wende die einzige relativ unabhängige Institution in der DDR, zum Herausgeber ihrer Studie „Energie und Umwelt“. Der nur für den innerkirchlichen Gebrauch bestimmte, 200 Seiten dicke Band ist im Januar 1989 erstmals einem breiteren Publikum zugänglich, wenn auch nur innerhalb der Kirche. Der Streit mit der Institutsleitung bleibt nicht aus. Sie droht beiden Atomkritikern mit dem sofortigen Rausschmiß. Ein Jahr später wird den Autoren diese Energiefibel förmlich aus der Hand gerissen. Sie ist bis heute die umfassendste Energieanalyse der DDR.

An den Stehtischen in der Greifswalder Mensa haben sich inzwischen weitere Atomexperten plaziert, darunter der Chef des AKWs Lubmin, Reiner Lehmann. Auch Lehmann redet davon, daß Sicherheit vor Ökonomie steht, aber... Bei Pflugbeil gibt es kein aber: „Brauchen wir erst ein zweites Tschernobyl um unsere Sinne zu öffnen?“ Ihm ist die Furcht einer Hausfrau wichtiger als der Optimismus eines Experten. Von einem Atomkraftwerksdirektor könne niemand erwarten, daß er sein eigenes Werk kritisiere.

Aber Pflugbeil weiß nicht nur wogegen er ist, sondern auch wofür. Er träumt von einem „Energieparadies DDR“. Energiesparende Haushaltsgeräte und Autos mit niedrigem Benzinverbrauch kreisen in seinen Gedanken. Der Braunkohle sagt er den Kampf an. Erdgas, Öl und alternative Energiequellen sollen sie schrittweise ablösen. Kleine und mittelgroße Kraftwerke mit Wärme-Kraftkopplung will er in Verbrauchernähe bauen. Damit liegt er auf derselben Linie wie jene bundesdeutschen Atomkritiker, die ihn in diesen Tagen vehement unterstützen. Aber es gibt einen umstrittenen Punkt in seinem Energiefahrplan: Pflugbeil glaubt nicht, daß er dabei ohne bundesdeutsche (Atom!)-Stromimporte auskommen wird, wenn auch nur für eine begrenzte Frist. Dieser Umstand macht ihm durchaus zu schaffen, doch er sieht gegenwärtig keine Perspektive, diese atomare Klippe zu umschiffen. Mit westlichen Stromimporten hätte er den Rücken frei für ein neues Energiekonzept, bei dem Atomstrom sicher keine Rolle spielt. „Das moralische Aus für AKWs“ zeichnet sich für ihn deutlich ab und ist eines seiner Lieblingssätze.

Wer die Wahrheit nicht weiß,

ist ein Dummkopf...

Wenn Pflugbeil über die ökologische Misere in der DDR spricht, schwingt Scham, fast Schuld, in seinen Worten mit. Deshalb ist es für ihn geradezu selbstverständlich, die angerichteten Schäden zu begleichen und noch Schlimmeres zu verhindern. Eine Motivation seines verantwortungsbewußten Handelns begründet er mit den Worten Brechts, der seinen Galilei sagen läßt: „Wer die Wahrheit nicht weiß, ist ein Dummkopf, aber wer sie kennt, und sie eine Lüge nennt, ist ein Verbrecher.“ Eine andere, die sich in seinem Kopf festgesetzt hat und als Frage unter deutschen Dächern wohl oft gestellt worden ist, ist die der nächsten Generation: Was hast du gewußt und dagegen getan? Vier Töchter stoßen ihn immer wieder an diese Frage.

Die evangelische Kirche, der er selbst angehört, ist seit Jahren sein Podium für einen kritischen und konstruktiven Meinungsstreit. „Aber sie kann nicht alleinige Plattform für eine gesellschaftsverändernde Bewegung sein“, sagt Pflugbeil. So zögert er nicht lange als Bärbel Bohley gezielt Leute um sich schart, die Anfang September die Bürgerbewegung „Neues Forum“ begründen. Er wird der „Energie - und Strahlenguru“ dieser Initiative. Zu den Unterzeichnern des ersten Aufrufs gehört auch seine Frau, die Ärztin Christine Pflugbeil. Kistenweise treffen nach der Gründung Adressen von Bürgern ein, die mitmachen wollen. Seitdem haben er und die anderen Forum-Leute keine ruhige Minute mehr. Obwohl er sich wünschte, daß möglichst viele politisch Unverdorbene den Scherbenhaufen beseitigen, hat er mit dieser Wirkung nicht gerechnet. Das Neue Forum wird für einige Wochen zur wichtigsten Gruppe der neuen DDR -Opposition.

Inzwischen ist die große Aufbruchstimmung auch beim Neuen Forum umgeschlagen. Während früher schon die Alltagsprobleme alle vereinten, zersplittert der Wahlkampf jetzt ihren ursprünglichen Freiheitskampf. Auf der Gründungsversammlung des Wahlbündnisses mit „Demokratie Jetzt“ und „Frieden und Menschenrechte“ spüren alle, wie groß die Differenzen über künftige Weichenstellungen geworden sind. Besorgt sieht Pflugbeil die Verlockung, mit der Westmark sei alles gelöst. Das verführe auch viele in den eigenen Reihen. Ungezügelte Rufe nach Wiedervereinigung gibt es auch im Neuen Forum. Pflugbeil will die westdeutsche Gesellschaft nicht in die DDR importieren, sondern selbst die Zukunft gestalten. An den Farben eines gemeinsamen Deutschlands will er mitmalen, aber der sich abzeichnende Farbton gibt ihm zu denken. Er glaubt, daß der Vereinigungstaumel weniger euphorisch wäre, wenn die Nachteile der Liaison offen benannt würden. In der Nato zu sein, diese Vorstellung findet er grotesk. Und mehr noch: In einem vereinigten Deutschland wären Leute wie er wieder die Zielgruppe eines wie auch immer titulierten Staatsschutzes. Viele hätten vergessen, was der Herbst '89 wollte. „Sicher nicht kapitalistische Verhältnisse. Aber kaum jemand weiß, was Sozialismus ist“, glaubt Pflugbeil. Für ihn hat er den Charakter einer positiven Vision verloren. „Das geht den meisten Menschen in den Sozialismus -Ländern so, auch in dem Land, von dem die revolutionären Signale ausgingen.“ Pflugbeil erwähnt eine morgendliche Begegnung mit dem sowjetischen Botschafter in Berlin, der ihn und Jens Reich vom Neuen Forum zu russischem Tee eingeladen hat. Für ihn ist dieser Kontakt sehr wichtig. „Viele Parteien und Gruppierungen richten jetzt ihren Blick zu sehr gen Westen, aber man darf das Geschehen im Osten nicht aus dem Auge verlieren. Wir brauchen in kurzer Zeit unmißverständliche und irreversible Änderungen, die deutlich machen, welche Farben der Sozialismus nun wirklich haben kann.“ Da stemmt sich einer vehement gegen den kalten Anschluß, bei dem die DDR wie die berühmte Brausetablette aufgelöst wird. „Deshalb muß die DDR ihre Chance begreifen, vor einem Neuanfang zu stehen, wo nicht Banken und Monopolinteressen den Gang der Dinge bestimmen. Ich finde Kontakte zu mittelständischen Unternehmen angemessener und effizienter als zu großen Konzernen.“ Doch zwei Giganten der bundesdeutschen Kraftwerksszene haben den Fuß schon in der Tür, um ihre atomaren Investleichen auf dem Boden der DDR wiederzubeleben. Minister Pflugbeil sieht mit Sorge diesen Tag heraufziehen.

In der Greifswalder Gesprächsrunde hat er keinen leichten Stand. Obwohl er weiß, daß seine Forderung nach Abschalten mit Pfiffen und Buh-Rufen honoriert wird, kommen seine Argumente ruhig und konzentriert. Einige wenige Greifswalder, die um ihre alte, nicht vom Krieg zerstörte Universitätsstadt bangen, applaudieren. Sie werfen den Bauarbeitern des Atommeilers vor, die Atmophäre ihrer Stadt verändert zu haben. Betonsilos an der Peripherie zeigen, wo das Geld hingeflossen ist, während der Stadtkern verfällt. Deshalb schlägt Pflugbeil vor, alle Bauleute aus dem AKW sofort für die dringend notwendige Sanierung abzuziehen.

„Politiker halten das Maul

und bleiben unter der Decke“

Nach der Sendung umringen ihn viele, hören gespannt zu, was der schmale Minister aus Berlin, der eigentlich keiner sein will, zu sagen hat.

Pflugbeil sarkastisch: „Ein Minister hätte sich nicht zu Greifswald geäußert. Politiker halten das Maul und bleiben unter der Decke“. Nach den Wahlen, wie immer sie ausgehen, will er nicht in seinem Amt bleiben. Er fühlt sich nicht zum Politiker berufen. Das Jonglieren mit der Wahrheit liegt ihm nicht. Doch im Neuen Forum ist er zu Hause. Hier kann er seinem Prinzip treu bleiben: „Es hat einen Sinn, das zu tun, was man für richtig hält und nicht immer nur abzuwägen, was es für Folgen hätte.“ Diesen Wegweiser hält er für das moralisch sauberste Rezept um „Berge gegen lethargische Massen versetzen zu können“. Doch auch sein Weg war gepflastert mit Enttäuschungen und Niederschlägen: Trotz Perestroika in der Sowjetunion hat sich im eigenen Land jahrelang bewegt, Tausende sind davongelaufen.

Als sich Ende August die Ausreisewelle an der ungarischen Grenze dramatisch zuspitzt, besucht Pflugbeil gerade mit seiner Familie zum ersten Mal die Bundesrepublik. Die Situation ist schizophren: Fortwährend müssen die Eltern erklären, warum sie mit ihren Kindern in die DDR zurückwollen. An der Staatsgrenze sind alle, die sie kontrollieren, total irritiert und verwundert. Da reist jemand gegen den Strom. Jahrelang lebte der Familienvater damit, daß Freunde, Nachbarn und Kollegen rübergehen. Die Frage, wer den Fehler macht - der der bleibt oder der der geht - hat auch ihn nie verlassen. Die Antwort, die sich Sebastian Pflugbeil von Millionen DDR-Bürgern wünscht, blieb am Ende stets dieselbe: „Bleiben, weil ich etwas verändern kann.“

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