: Gefährliches Experiment
Wer sich bislang nicht vorstellen konnte, wie eine regierungsamtliche Desinformationskampagne aussieht, hat nun ein exemplarisches Studienobjekt. In kaum einem Fall ist in vergleichbarer Weise von US- und Bundesregierung verschleiert und gelogen worden. Das systematische Verwirrspiel um den Lagerort dauerte über ein Jahrzehnt. Nachdem zumindestens klar war, daß das Gift in Rheinland -Pfalz gelagert sein muß, versuchte der frühere rheinland -pfälzische DGB-Vorsitzende Julius Lehlbach mit einer Verfassungsklage, die Bundesregierung zur Information der Öffentlichkeit zu zwingen - vergeblich. Jahrelang robbten friedensbewegte Bürger um abgelegene US-Depots, um anhand der jeweiligen Sicherheitsvorkehrungen das Giftgaslager zu identifizieren - ebenfalls umsonst. Die lang gehegte Vermutung, die C-Waffen seien in Fischbach bei Pirmasens gebunkert, erwies sich als Fehlschluß - die Blockadeaktionen der Friedensbewegung fanden am falschen Ort statt.
Was für den Ort der Lagerung galt, stimmte natürlich erst recht für Art und Menge des Gites. Nervengase waren es, abgefüllt in Artilleriegranaten - soviel ergab sich schließlich aus den Unterlagen des US-Kongresses, die in mühevoller Kleinarbeit ausgewertet wurden. Über den Umfang besteht immer noch Unklarheit. Nach Angaben des US -Rechnungshofes ist jedenfalls in Rheinland-Pfalz erheblich mehr untergebracht als jetzt offiziell zugegeben wird.
Die Desinformationspolitik wurde beim Clinch um den Abzug virtuos fortgesetzt. Den Auftakt machte Kohl im Mai 1986. Sein Freund Ronald Reagan persönlich, so der Kanzler, habe ihm am Rande des Weltwirtschaftsgipfels in Tokio den zügigen Abzug des Teufelszeugs zugesagt. Was Kohl unter der Decke hielt, war der Zusammenhang zwischen Abzug der Gift -Altlasten und der Produktion einer neuen Generation amerikanischer Chemiewaffen, der sogeannten binären Munition.
Reagan hatte vom Kongreß eine doppelte Auflage, bevor er die Mittel für die Produktion neuer Chemiewaffen bekam. Das alte Giftgas sollte bis 1994 vernichtet werden, und ein europäisches Nato-Land mußte sich zur Stationierung der neuen Waffengeneration bereiterklären. Deshalb der Handschlag von Tokio, ohne daß je eine schriftliche Vereinbarung zwischen US- und Bundesregierung über Abzug und eventuelle Neustationierung vorgezeigt werden konnte. Allein die Mittelfreigabe in den USA machte klar, daß Kohl einer Lagerung von neuem Giftgas zugestimmt haben muß, angeblich eingeschränkt auf einen „Krisenfall“.
Während der Kanzler bis heute öffentlich behauptet, die C -Waffen würden „ersatzlos“ abtransportiert, heißt es im US -Gesetz vom 4.12.87: „Chemische Munition der USA, die in Europa gelagert wird, darf erst abgezogen werden, wenn die Munition zeitgleich durch binäre Kampfstoffe auf dem Boden wenigstens eines Nato-Staates ersetzt wird.“ Zur Auswahl steht ausschließlich die Bundesrepublik.
Den eigentlichen Höhepunkt erreichte die Desinformationskampagne jedoch, als es um Zeit und Modalitäten des Abzuges ging. Kohl will einen Termin bis Herbst dieses Jahres, die Bundestagswahl im Dezember fest im Blick. US-Offizielle zeigten sich dagegen über die Eile höchst irritiert, der Kongreß-Abgeordnete Larry Hopkins „kann sich nicht vorstellen“, wie so „ein Höchstmaß an Sicherheit für die deutsche Bevölkerung“ hergestellt werden kann.
Diese Einschätzung ist angesichts des Verfahrens, das in den USA zur Vernichtung der Chemiewaffen-Altbestände angewandt wird, nicht verwunderlich. Per Gesetz wurde die US -Army verpflichtet, im Bereich jedes der acht C-Waffendepots öffentliche Hearings zu veranstalten und zahlreiche unabhängige Gutachter in die Suche nach dem am wenigsten gefährlichen Vernichtungsverfahren einzubeziehen. Das Ergebnis wirft ein bezeichnendes Licht auf den jetzt beabsichtigten Abtransport des Giftes aus der BRD: In den USA kam man überein, die Verbrennung an Ort und Stelle vorzunehmen, da die Risiken für einen Transport nicht zu kalkulieren seien. Allein für den Transportweg des Giftgases innerhalb eines der acht Depots - vom Lager in den Verbrennungsofen, knapp 100 Meter - hat die US-Army Kosten von gut 10 Millionen Dollar errechnet.
Für den Transport über 12.000 Kilometer, von Clausen bis in den Pazifik, haben die USA dagegen ganze 50 Millionen Dollar veranschlagt. Entlang der nun vorgeschlagenen Transportwege, erst mit LKWs zum US-Depot Miesau, dann per Bahn an die Nordsee, leben mehrere Millionen Menschen in der unmittelbaren „Risikoschneise“ (siehe die Karte mit den beiden möglichen Routen). Welches Risiko die Bundesregierung damit tatsächlich eingeht, kann den Verantwortlichen selbst nicht klar sein. Die Desinformation ist komplett.
Jürgen Gottschlich
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