: Stadtrundfahrt über einen Teppich von Kinderleichen?
■ Die taz präsentiert eine belletristische Eskalationsmöglichkeit für den KiTa-Streik: Kids überall, auf Rollfeld, Autobahn, in Rathaus und Fabrik
(...)„Stimmt.“ Ein Schatten fiel über das Telefon, und der Premierminister sah, als er die Augen hob, genau in das ernste Gesicht eines Polizeiinspektors. Die schrille Stimme keifte weiter: „Stimmt genau. Hier sind die Frauen. Sie haben unsere Kinder.“ „Ich habe keine Kinder“, sagte der Premierminister. „Jetzt haben sie welche“, sagte die Frau. Der Polizist wollte ihm etwas ins Ohr flüstern. Gereizt bedeutet er ihm, er solle still sein. Die Frau sprach weiter: „Wir haben beschlossen, uns nicht mehr um sie zu kümmern, verstehen Sie. Wir machen uns einen freien Tag.“ Die Stimme war jetzt dreist, schon fast kokett. „Verzeihung, ich sollte besser sagen, wir streiken.“ (...)
„Aber sie wußten doch gar nichts davon“, brüllte der Premierminister. „Sir?“ „Ändern Sie die Route, verdammtnochmal.“ „Du lieber Himmel, ich hoffe doch, daß Sie schon mit schlimmeren Zusammenrottungen als einer Handvoll Kinder fertig geworden sind. Tun Sie was, verabreichen Sie ihnen Bonbons oder Tränengas oder sonstwas.“ „Tränengas, Sir?“ „Irgend etwas! Also gut. Kein Tränengas, Sie wissen schon, was ich meine, handeln Sie nach eigenem Ermessen, Mann, Sie werden schließlich gut genug bezahlt. Tränengas gegen Kinder! Glauben Sie etwa, der Präsident möchte eine Stadtrundfahrt über einen Teppich von Kinderleichen machen?“ (...)
Ein buntes Meer von Kindern brandete gegen die Mauern des Palastes, und es kamen immer noch mehr: Es war kein Aufruhr, es war eher wie ein Spiel. Verdutzte Polizisten standen in kleinen Grüppchen herum. Auf ihren Hüften wölbten sich Pistolen - Jungen traten heran, baten darum, sie sich ansehen zu dürfen. (...) Polizeihunde wurden herangeschafft; die Kinder tätschelten sie. Polizeipferde wurden mit Zuckerstückchen gefüttert und über die Nasen gestreichelt. Kinder kletterten über parkende Wagen, wobei sie sich zuerst die Schuhe auszogen, damit dem Lack nichts passierte. Sobald sie in die Nähe des Palastes kamen, rannten sie nicht mehr, sondern schlenderten langsam herum oder setzten sich hin und aßen Süßigkeiten. Viele von ihnen trugen Transparente an Papierlutschern: „Die Frauen streiken“. (...)
Den ganzen Tag über tauchten ständig neue Kinderhorden auf Bahnhöfen und Endstationen und bei alten Denkmälern, in Universitäten und Parks, Hotelhallen und Laboratorien, Büros und Fabriken auf. Als ersichtlich wurde, daß ihre Mütter sie über Nacht dort lassen wollten, ließ der Premierminister die Kinder in Frauengefängnisse bringen. Diese Schmach sollte die Mütter veranlassen, ihre unsinnige Haltung aufzugeben. Berichten zufolge waren die Gefängnisinsassinnen begeistert, die Aufseherinnen allerdings weniger. Die Kinder sausten über die Flure ud wollten Gutenachtgeschichten und Karotten und Wasser zum Trinken. Außerdem begannen die Männer in den Männergefängnissen, auch Anspruch auf einen Teil der Kinder zu erheben. (...)
Die Schulen waren geschlossen. Kleine Kinder mußten deshalb mit ihren Vätern zur Arbeit gehen, was den Vätern nicht recht war. Die Betriebe richteten Krippen und Spielzimmer ein und ließen Väter besondere Schichten arbeiten, aber sie bekamen weniger Geld, auch ohne die Abzüge für die Kinderversorgung. Auch wenn sie beaufsichtigt wurden, störten die Kinder den Ablauf des Arbeitstages. (...) Sie spielten und schwatzten auf Bürofluren, jammerten nach Papier zum Zeichnen und Fahrten auf Transportvorrichtungen. Sie befingerten die Waren in den Läden und verschwanden auf Entdeckungsreisen in Baugruben, bis sie wieder herausgezogen worden waren. Manchmal wurde ein Kleinkind dabei entdeckt, wie es einen Transmissionsriemen hinunterrrutschen wollte, und die Notschalter mußten betätigt werden.
Und bei alledem ging es ja erst einmal nur um die Kleinsten. Ältere Kinder strolchten unbeaufsichtigt herum. Sie spielten Ball in Kirchen und fuhren mit öffentlichen Verkehrsmitteln, ohne zu bezahlen. Oder sie standen in Banden herum und jagten Leuten Angst ein. Wenn man irgendwo kaputte Fensterscheiben oder haufenweise Abfälle entdeckte, dann wußte jeder, wer daran schuld war.
Aus: Zoe Fairbairns: Der Frauenturm, S.163ff, Rotbuch Verlag Berlin
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