Eine andere Sexualkultur-betr.: "Übersehen - verdrängt - unterschätzt", taz vom 26.2.90

betr.: „Übersehen - verdrängt - unterschätzt“, taz vom 26.2.90

Wer sich im Rahmen der Schwulenbewegung seit Jahren dem Thema Sexualität und Herrschaft/Unterdrückung widmet, könnte neidisch werden auf die Publizität, die durch die Frauenbewegung dem Problem des sexuellen Mißbrauchs von Mädchen zuteil geworden ist. Die wenigen Männer, die sich überhaupt von diesem Thema irgendwie berührt fühlen, sind Schwule und Pädophile - sexuelle Außenseiter also, die als Minderheit strafrechtlich verfolgt und gesellschaftlich diskriminiert werden. Unser nunmehr jahrzehntelanger Kampf gegen die Verfolgung von Homosexualität (§ 175) und anderer Formen einvernehmlicher Sexualität hat leider bislang nicht zu einer allgemein verbreiteten positiven Utopie der Sexualität geführt. (...)

Bislang fehlt in der Mißbrauchsdebatte jeder Ansatz zu einer positiven Identifikation mit der sich entwickelnden Sexualität von Kindern und Jugendlichen, insbesondere wenn sie vielleicht lesbisch oder schwul sind. Statt dessen haben sich beide Ansätze, der feministische sowie der familienorientierte, auf Begrifflichkeiten aus dem Sexualstrafrecht verständigt („sexueller Mißbrauch“) ohne deutlich genug darzulegen, inwiefern sich die verschiedenen Mißbrauchsbegriffe voneinander unterscheiden.

Im § 176 StGB ist der sexuelle Mißbrauch von Kindern definiert als „sexuelle Handlungen“, die an einer Person unter 14 Jahren vorgenommen werden oder die diese Person selbst vornimmt. Ohne auf die Selbstbestimmung des Kindes zu achten, wird hier strafverfolgt. Feministinnen wenden oft ganz andere Mißbrauchbegriffe an, zum Beispiel daß es sich um sexuelle Handlungen handelt, die das Kind nicht versteht, oder einfach, daß es sich um sexuelle Gewalt gegen Mädchen handelt.

Beide Ansätze lassen jedoch Fragen nach der Möglichkeit einer anderen Sexualkultur offen: Entwickeln Kinder, die systematisch von der Sexualität ferngehalten werden - wie es die Gesetze vorschreiben -, naturwüchsig eine bessere, also freiere und gewaltlosere Sexualkultur? Oder brauchen Kinder zur Entfaltung ihrer sexuellen Identität Leitbilder - auch von Erwachsenen? Wie müßte dann eine fortschrittliche Sexualerziehung aussehen, die Sexualität als Bestandteil der Kultur begreift und nicht nur als Sammlung biologischer Fakten? Ist 14 Jahre ein angemessenes strafrechtliches Einwilligungsalter, oder sollte es, wie jetzt bei schwulen Männern, bei 18 Jahren liegen? Täte es vielleicht auch ein Einwilligungsalter von zehn, acht oder gar sechs Jahren? Oder ist das Lebensalter überhaupt das falsche Kriterium zur strafrechtlichen Würdigung von sexueller Aktivität? Falls ja, wie ist ein Schutz vor nichteinvernehmlicher Sexualität strafrechtlich effektiv möglich?

Wir werden alle beim Sexualstrafrecht keinen Schritt weiterkommen, wenn es uns nicht gelingt, hier gemeinsame Antworten zu finden. Auch nicht beim § 175, denn da argumentieren die Rechten scheinheilig immer mit dem Jugend und Kinderschutz. Der Grat jedoch zwischen Schutz einerseits und Bevormundung andererseits ist eine sehr schmale Linie, die es exakt zu ziehen gilt. Denn wenn es ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung gibt, wie es der 13. Abschnitt des Strafgesetzbuches postuliert, sind nicht allein Opfer sexueller Gewalt zu beklagen, sondern auch Opfer antisexueller Gewalt. Viele Schwule sind zum Beispiel Opfer solch antisexueller Gewalt. Sie sind in ihrer Kindheit und Jugend mit dem Anderssein völlig alleingelassen, mit ihrer Sexualität auf sich selbst fixiert. Die Folgen sind ähnlich wie die in der taz beschriebenen: Verschlossenheit, Wahrnehmungsstörungen, Selbsthaß bis hin zur Selbstzerstörung, Drogensucht, mitunter auch Kriminalität, Zurückgezogenheit, Kontaktstörungen, Hysterie u.a. Diese „Fähigkeiten“ helfen uns unsere Situation zu ertragen. Das Coming-Out ist ein mühsamer Prozeß, um zu einem lebenswerten Leben zu finden.

Mancher von uns hätte sich vielleicht als Junge von einem Mann zärtlich verführen lassen, um anschließend aus Angst und Verunsicherung die Verantwortung und Schuld auf diesen Mann abzuwälzen. Das ist wohl mit ein Grund, weshalb viele von uns an der Utopie der Pädophilie (Beziehungen zwischen Männern und Jungen, die einvernehmliche Sexualität nicht ausschließen) so lang festhalten - obwohl wir um die Probleme in einer tendenziell gewalttätigen Gesellschaft wissen.

Nur wenn Feministinnen und Pädophile sich an einen Runden Tisch setzen und ihre grundverschiedenen Erfahrungen mit Sexualität und Unterdrückung austauschen und verstehen lernen, kann daraus eine andere sexuelle Kultur entwickelt werden.

Kurt Hartmann, AL Berlin, Schwulenbereich