: HERZ KOPIERT
■ Cabaret im Treptower Club Gerard Philipe
Am Anfang ist immer die Bar. Und Bar heißt hier immer noch, daß es kein bloßes Bier - (im besten Falle mit Sekt) -, sondern Abricot-Tonic, Kola-Gin, Gin-Tonic, Kola-Whiskey, Kola-Wodka, Kola-Weinbrand und andere Köstlichkeiten gibt. Die Bar ist die Nacht des sozialistischen Auslands; Kühle und Schmucklosigkeit ohne Tinnef, ein paar Leute, die trinken, wenn es anderswo schon nichts mehr gibt und auch davor. Bar heißt fünfziger Jahre und sieht immer gleich aus: in Polen, in Ungarn, in der SU oder in der DDR. Im Stil immer zwischen Bahnhof und Hotel. Auf kunstledernen Würfeln vor kniehohen Tischchen sitzend, kann man dort über die eigentlich wichtigen Dinge des Lebens nachdenken.
Schon vorbereitet durch dunkle Treptower Kreuzungen und Hafenanlagen hinter dem früheren Ende der Welt, dem Schlesischen Tor, ist man in der Bar immer ein wenig außerhalb der Zeit: Der fünfte Gin-Tonic verbindet sich in unwillkürlicher Erinnerung - wie die Proustsche Madeleine mit dem ersten, den man in irgendeinem Whiskey a gogo in den siebziger Jahren getrunken hat. Und wie damals sitzt man nicht am Tresen, dem Königsplatz (um abseits wenigstens noch still gegen die kapitalistische Besetzung & Gemeinheit zu protestieren), sondern ein paar Meter davor und muß aufstehen, um noch mehr zu bekommen. Dazu muß man an zwei Männern vorbei. Sie gehören zum Club Gerard Philipe und stehen da schon ein paar Jahre und verteilen Seitenhiebe an Minderjährige oder eben an Westler, weshalb sie vom Chef ermahnt werden.
Der Club Gerard Philipe entstand in den fünfziger Jahren als Grenzkino, „sozusagen als kultureller Schutzwall“ gegen den Westen. In den siebziger Jahren wurde es geschlossen, verfiel eine Zeitlang vor sich hin. Peter Waschinsky, gelernter Puppenspieler, suchte damals dringend „Räume für Aktivitäten v.a. genreübergreifender Natur“. Nachdem er die Verantwortlichen „unheimlich lange bearbeitet“ hatte („ich muß dazu sagen, die gehören hier zu den etwas intelligenteren Kulturleuten - die wußten, wer ich bin“), konnte er im Herbst 88 anfangen zu spielen.
Waschinsky möchte Cabaret machen, „so etwas wie eine Revue, in der alles mögliche möglich ist“. Dabei setzt er sich vom politisch-satirischen Kabarett ab. „Der ursprüngliche Begriff des Kabaretts ist ja sehr alt“, sagt er, „das ist eigentlich ein Tafelaufsatz, der aus zusammenpassenden Schüsseln besteht und wo dann verschiedene Speisen drin sind - lauter kleine Sachen.“
Und die kleinen Sachen präsentiert eben Peter Waschinsky wie es sich für einen östlichen Künstler geziemt, mit Zopf und Bart - und bleibt dabei mit leisen Tönen doch eher im Hintergrund. Diese leisen Töne, das Friedliche selbst noch in politischen Texten - „hier steh‘ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor“ - sind für den Westbesucher erst einmal irritierend; verwechselt man doch leicht das, was der Puppenspieler nicht verwechselt haben möchte: sein Cabaret mit aggressivem politischem Kabarett. Allzuschnell vergißt man dabei auch, daß nicht eigentlich die Verbote es waren, die die Kleinkunst behindert hatten, sondern „dieser mühevolle Kleinkrieg“ mit den Behörden, mit den Vertretern eines Staates, der alles, was off war, als Privatunternehmertum denunziert hatte. So spielt Waschinsky ganz unspektakulär mit seinen Fingern als Puppen, „mit der einzigen dressierten Gespenstschrecke im Warschauer Pakt: Tiere dressieren - führende Rolle durchsetzen“, ein Stück über Aufstieg und Fall eines Genossen, der in höchste Höhen befördert worden war, weil ein Historiker mal rausgefunden hatte, daß dessen Großvater mal mit Ernst Thälmann aus einer Tasse getrunken hatte - „da war ich reif für die Nomenklatur“. So läßt Waschinsky Michael Iwannek, einen kleinen Kerl, der aussieht wie Hunderttausende (und auch so angezogen ist), Parodien auf Reinhard Mey, Frank Sinatra oder Peter Maffay singen - das sind eigentlich keine Parodien mehr, sondern minimale Verschiebungen, bei denen man dem Sänger anmerkt, daß er eine klassische Gesangsausbildung hat und „eigentlich“ in der E-Musik sein Brot verdient. Die schwulen Freunde am Nebentisch sind mehr als entzückt, und Waschinsky als pflichtbewußter Conferencier setzt sich neben Iwannek auf die sehr breite, sehr schöne Bühne vor dem silbrig glänzenden Vorhang und interviewt und fragt ihn nach diesem und jenem, und der antwortet ihm, daß E- und U-Musik eigentlich nicht vereinbar seien (womit er recht hat) und daß das eigentlich „Underground“ sei, was er da mache.
Zwischen den Akten werden Filme gezeigt, denn „die Klagen der DDR-Filmemacher erreichten uns, erweichten unser Herz, und wir beschlossen, einen Monat lang Filme zu zeigen. Wer kam, waren die Wessis - die 'Ossis‘ glänzten durch Abwesenheit. Die sind wohl woanders.“ Das sind zum Teil wunderschöne, kleine No- und Low-budget-Filme des Filmbüros Berlin: Die Welt braucht mehr Herz zum Beispiel von Andreas Fischer: Ein nach Liebe und Verständnis Suchender weiß, daß Herz rar ist auf dieser Welt, und muß lange suchen, bis er in einer Fleischerei ein wenig davon bekommt. Glücklich kopiert er die Herzen auf dem Kudamm oder anderswo und verteilt die Kopien unters Volk, und ein dicker Mitbürger freut sich am Ende: „Ich danke dir, mein Freund, denn jetzt hat die Welt mehr Herz.“ Oder Bilder -Ausstellung von Joachim Lünenschloß: Ein nur halb zufriedener Ausstellungsbesucher beginnt in einem Super-8 -Schwarzweißfilm das Gesehene mit mitgebrachtem Pinsel zur Walzermusik zu verbessern. Oder die wunde Seele findet Trost darin, Mitbürgern gefrorene Scheiße in den Briefkasten zu legen, nämlich in einem Film von Jürgen Meissel und Peter Michaeli, den die DDR-Bürger besonders ins Herz geschlossen haben.
Und das Ballett tanzt zum nebenherlaufenden Hollywoodballett; im Stechschritt, hoch die Hand, allein in der Wiederholung verdeutlichen sie das ekelhaft Militaristische amerikanischer Fernsehballetts. Im Ausdruckstanz schließlich - fairerweise muß gesagt werden, daß die anderen wiederum äußerst angetan waren demonstrierte ein Paar, Sabine Ranger und Jürgen Homann, beide Profis, eigentlich nur - der Mann mit Halbglatze und freigelegten Brustspitzen -, wie gänzlich uninteressant Paarungstänze sind. Derselbe Homann schlüpfte am Ende großartig verwirrend in zwei Puppen, die sich komisch überschlugen und Faxen machten, so daß man nie wußte, wo denn die echten Körperteile waren, und grenzenlos begeistert nach drei Stunden - samstags gibt es nach dem Programm meist noch eine Disko - direkt am Tresen in die Nacht starten konnte, die zur Zeit im Osten ja noch wirklich tief und schön ist.
Detlef Kuhlbrodt
Cabaret Philipe im Club Gerard Philipe, Karl-Kunger-Straße 29, 1193 Berlin, Freitag und Samstag jeweils 21 Uhr.
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