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Einwanderer oder Kolonisatoren?

 ■  Aus Tel Aviv Amos Wollin

Ende Februar gab ein „hoher Regierungsbeamter“ bekannt, daß im Jahre 1990 insgesamt 230.000 jüdische Einwanderer aus der Sowjetunion in Israel eintreffen werden. Bis dahin war von siebzig- bis hunderttausend jüdischen Immigranten aus der UdSSR die Rede. Der stellvertretende Finanzminister Dr. Jossi Beilin meint, Israel könne auch 230.000 Neueinwanderer unterbringen - vorausgesetzt, daß weitere zehn Milliarden Schekel (rund fünf Milliarden Dollar) für die Eingliederung zur Verfügung stünden. Die Summe soll vor allem durch Anleihen im Ausland und mit Hilfe zusätzlicher Spenden von Juden aus aller Welt aufgebracht werden. Das Wohnungsproblem steht im Vordergrund, und die bereits festgelegten Bauprogramme müssen nun wesentlich erweitert werden; vor allem will man mehr Einwandererfamilien in Galilea und im Negev ansiedeln.

Auch bei derzeit zehn Prozent Arbeitslosen wird es für die Neuankömmlinge nicht einfach, Arbeit zu finden. Man darf nicht vergessen, daß jährlich rund 20.000 zumeist jüngere israelische Juden auswandern, und dies vor allem aus wirtschaftlichen Gründen.

Für Israel ist der jüdische Bevölkerungszuwachs von großer Bedeutung. Schon vor eineinhalb Jahren stellte der Geograph der Universität in Haifa, Prof. Arnon Sofer, fest, daß von den fast sechs Millionen Einwohnern des „westlichen Eretz Israels“ (das heißt Israel zusammen mit den besetzten Gebieten westlich des Jordan) rund 40 Prozent Nichtjuden sind. „Wir müssen uns der Tatsache bewußt sein, daß wir bereits einen binationalen Staat haben. Die Ereignisse im letzten Jahrzehnt waren besonders besorgniserregend. Erstens ist die Zahl der jüdischen Auswanderer weiter angestiegen und hat den demographischen Vorteil wieder aufgehoben, den die Einwanderung brachte. Zwischen 1980 und 87 sind ungefähr 90.000 Juden eingewandert, während 90.000 ausgewandert sind. (...) Wenn nicht bald ein Wunder geschieht, dann haben wir in zwölf Jahren einen binationalen Staat, in dem 55 Prozent der Bevölkerung Juden und 45 Prozent Araber sind. Mit anderen Worten: das Ende des zionistischen Traums...“

Vor den letzten Knessetwahlen hat die Arbeitspartei diese Angst vor einem wachsenden arabischen Bevölkerungsanteil zu einem ihrer Hauptargumente für den Verzicht auf Teile der besetzten Gebiete im Rahmen einer friedlichen Lösung mit den arabischen Nachbarn gemacht.

Wie weit die jüdische Mehrheit in Israel durch die gegenwärtige „Alijah“ (hebräisch: Aufstieg, gemeint ist die Rückkehr aus der „Diaspora“, d.Red.) gesichert werden kann, hängt natürlich nicht von Prognosen ab, sondern von der Anzahl der Einwanderer, die tatsächlich kommen werden und nicht wieder gehen; und ebenso von der Anzahl der in Israel geborenen Juden, die auswandern.

Zu Recht sehen die Palästinenser in einer massiven „Alijah“, die Ministerpräsident Schamir mit der Option auf „Groß-Israel“ verbindet, eine Bedrohung: Sie und ihre Vorfahren wurden bereits ein- oder zweimal von den Einwanderen aus ihren Häusern und von ihrem Boden vertrieben; die Landnahme und „jüdische Besiedlung“ der seit 1967 besetzten Gebiete schreitet täglich weiter voran. Das schließt auch die weitere Umgebung Jerusalems mit seinen nach 1967 entstandenen Vorstädten im annektierten Osten und Norden der Metropole ein, wo jetzt ungefähr 120.000 Juden wohnen. Insgesamt lebt derzeit etwa eine viertel Million jüdischer Siedler in den besetzten Gebieten, wo die Palästinenser ihren eigenen Staat gründen wollen.

Der Rechtsanwalt Jonathan Kuttab aus Ostjerusalem sagt: „Aus pragmatischen Gründen waren wir gezwungen, mit den Juden zu leben, die auf unserem Boden sitzen und glauben, daß dies ihr Land ist. Wir haben uns auch damit begnügen müssen, daß uns nur das Westufer, Jerusalem und der Gaza -Streifen bleibt. Wenn jetzt auch nur weitere 10.000 Juden in das Gebiet des Westufers oder in die Ostjerusalemer Vorstädte kommen, wird das die praktische Möglichkeit einer Zwei-Staaten-Lösung ausschalten. Ich fürchte, daß man uns jetzt auch noch das letzte Viertel unseres Landes nehmen wird.“

Islamische Fundamentalisten der „Hamas„-Bewegung, die ganz Palästina für die Palästinenser fordern, sind grundsätzlich gegen jüdische Einwanderung -, auch wenn die Einwanderer innerhalb der israelischen Grenzen bleiben.

Den Standpunkt der palästinensischen Linken bringt Bashir Barghuti aus El-Bireh bei Ramallah (Westbank) zum Ausdruck: „Die jüdische Einwanderungswelle aus der Sowjetunion und die Erklärung verschiedener israelischer Beamter, daß die Einwanderer das Recht haben, sich niederzulassen, wo sie wollen - auch in den besetzten Gebieten -, läßt die Meinung der Palästinenser, völlig aus der Acht: Wenn die Ansiedlung von Neueinwanderern in den besetzten Gebieten weiter geduldet wird, bedeutet das die indirekte Anerkennung israelischer Souveränität über diese Gebiete. Seit 1967 hat Israel ständig danach gestrebt, in den besetzten Gebieten Tatsachen zu schaffen. Wie israelische Sprecher verkünden, soll die Siedlungstätigkeit einen israelischen Rückzug aus den besetzten Gebieten unmöglich machen und die Gründung eines palästinensischen Staates verhindern. Es wäre sehr naiv, der israelischen Behauptung Glauben zu schenken, daß sich nur sehr wenige neue Einwanderer tatsächlich in den besetzten Gebieten niederlassen werden. Schließlich werden die Einwanderer doch durch Subventionen und verschiedene andere Arten der Unterstützung ermutigt, sich hier niederzulassen.“

Ungeachtet der amerikanischen Verordnung, nach der Gelder aus steuerfreien Schenkungen, zum Beispiel an den Israel -Fond der „Jewish Agency“, nur innerhalb des israelischen Staatsgebiets und nicht in den besetzen Gebieten verwendet werden dürfen, hat man seit 1977 rund 500 Millionen Dollar aus diesen Überweisungen an die „Jewish Agency“ für die Besiedlung der Westbank eingesetzt. Und das ist nur ein Teil der enormen israelischen Investitionen in die besetzten Gebiete. Ein Ende dieser Politik ist nicht in Sicht.

„Die Vielzahl der wirtschaftlichen Anreize, die Juden - und natürlich auch Einwanderer aus der Sowjetunion - dazu bringen soll, in die Siedlungen der besetzten Gebiete zu gehen, bleibt auch weiterhin wirksam. Die Siedlerinstitutionen, vor allem Gusch Emunim, machen große finanzielle und organisatorische Anstrengungen, um Einwanderer aus der SU in ihr Netz zu integrieren. Sie arbeiten mit den Regierungsämtern zusammen - mit dem Ministerium für Häuserbau und dem Ministerium für Eingliederung der Einwanderer“ - berichtet Danni Rubinstein im 'Davar‘ (23.2.90). Die Siedlerzeitung 'Nekuda‘ berichtete im Januar, daß Tausende neuer Wohnungsbauten in den städtischen Siedlungen des Westufers geplant sind und außerdem in den kleineren Siedlungen je 20 neue Häuser entstehen.

Vorläufig verstehen noch zu wenige Israelis, daß die Zukunft der „Alijah“ und der Friedensverhandlungen mit den Palästinensern eine Funktion der Siedlungspolitik ist. Nur wenige sehen, daß die Einstellung jeglicher Kolonisationstätigkeit und das Einfrieren aller finanzieller Mittel für diese Zwecke notwendig ist, um die Fortsetzung der Einwanderung von Juden in den Staat Israel zu gewährleisten. Israel muß heute wählen: entweder Einwanderung oder Siedlungen in den besetzten Gebieten.

Die Fortsetzung der Einwanderung erfordert auch ein entsprechendes wirtschaftliches und soziales Klima, das nur durch die rasche Anbahnung des Friedens mit den Nachbarn und eine drastische Einschränkung der Rüstungsausgaben geschaffen werden könnte. Die Frage ist jetzt, ob die Einwanderungswelle von Juden aus der Sowjetunion den Konflikt mit den Palästinensern und die Probleme in Israel weiter zuspitzt; oder ob die internationalen Reaktionen auf die israelische Politik mit den Einwanderern eine „Hebelwirkung“ hat, welche zur Überwindung der allgemeinen Krise beiträgt, in die die israelische Regierungspolitik geführt hat.

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