: Ein neues Instrument der Perestroika
Gorbatschow komplettiert Präsidialrat / Politische Ausgewogenheit war Prinzip / Keine Frau in dem Gremium / Machtzuwachs der Stäbe ■ Aus Moskau Sonja Mikich
Letzten Donnerstag war es soweit, die 'Prawda‘ veröffentlichte die Namensliste jener 16 Männer, die den neuen Präsidentenrat bilden. Kein Kabinett im westlichen Sinn, sondern ein Gremium, das dem Präsidenten beratend beigestellt ist. Gorbatschow hat hier ein Instrument zur Verfügung, das das Amt des Präsidenten auf Kosten des Parteiapparates stärken soll.
Der Präsidentenrat wird einmal das alte Politbüro ablösen. Der gemeinsame Nenner, der die 16 doch sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten prägt: Sie haben Schlüsselpositionen in Staat und Gesellschaft inne, und sie sollen die Ansichten und Visionen des Präsidenten teilen. Er betrachtet sie als seine Helfer bei der Verwirklichung der Perestroika. Formell sind die 16 Mitglieder gleichberechtigt. Jeder hat einen eigenen Informationsstab. Zwischen diesen Stäben, dem Präsidentenrat und dem Präsidenten ist ein System der Rückkopplung geplant. Gorbatschow will nicht nur Empfehlungen hören, sondern auch wissen, wen er für die Genauigkeit und Effektivität dieser Empfehlungen anzusprechen hat. Verantwortlichkeit des einzelnen wird großgeschrieben.
Allzusehr überrascht die Zusammensetzung des Präsidentenrates niemanden, spiegelt sie doch vor allem wieder, auf wen sich Gorbatschow bei seinen nächsten politischen Schritten zu verlassen scheint bzw. bei welchen gesellschaftlichen Gruppen er Rückendeckung sucht. „Von Amts wegen“ wurden selbstverständlich Außenminister Schewardnadze, Verteidigungsminister Dimitri Jasow, Ministerpräsident T.Ryschkow, KGB-Chef Kriutschow und auch Innenminister Bakatin ernannt. (Bakatin gehörte zu den Beinah-Kandidaten für das Präsidentenamt. Der populäre Innenminister weigerte sich aber, mit Gorbatschow zu konkurrieren...)
Alle fünf erfreuen sich gewisser Popularität in der Bevölkerung. Sogar der übervorsichtige Ryschkow, der als Bremser der Reformer gilt, hat sich in letzter Zeit zum Liebling der Deputierten des Volkskongresses gemausert. Durch Ryschkow stellt Gorbi überdies den konservativen Flügel der KP zufrieden.
Interessant sind die Berater, die bislang keinen administrativen Posten hatten, wie etwa der Schriftsteller Tschingis Aitmatov, einer der beliebtesten Autoren im Lande. Der 62jährige Kirgise ist offen „westlich“ orientiert. Ihm schwebt für die SU ein Sozialismus nach schwedischem Modell vor. Sein Gegenpol ist Valentin Rasputin, parteilos, ebenfalls Schriftsteller. Im Westen würde er als grüner Wertkonservativer bezeichnet. (Die Verfilmung seines Buches „Abschied von Matjora“ wurde mehrfach preisgekrönt.) Rasputin machte sich vor allem mit seinem Engagement für die Umwelt einen Namen. Er war ein entschiedener Gegner der aberwitzigen Pläne, die sogenannten Nordflüsse in Sibirien umzuleiten, was zu einer ökologischen Katastrophe geführt hätte. In den letzten Jahren hat sich Rasputin zunehmend dem russischen Nationalismus genähert und mit antisemitischen Äußerungen für Schlagzeilen gesorgt. Daß er in den Rat gerufen wurde, ist als Taktik Gorbatschows jenen lautstarken Minderheiten gegenüber zu verstehen, die befürchten, daß die Sowjetunion auf Kosten der Russen auseinanderbricht. Ähnlich interpretieren Beobachter die Ernennung des 50jährigen Arbeiters und Volksdeputierten Venjamin Jarin, der sich zur erzkonservativen „Vereinigten Front der Werktätigen“ rechnet. Jarin gilt als Rechter, er ist gegen die Marktwirtschaft und die Verwestlichung. Der Uraler Arbeiter hat sich in seiner Heimat einen Namen gemacht als entschiedener Verfechter des Umweltschutzes.
Mit Alexander Jakowlew und Stanislas Schatalin hat Gorbatschow zwei Trumpfkarten in Sachen Perestroika. Der Historiker und PB-Mitglied Jakowlew gehört zu den Erfindern des Präsidentenrates. Seine Kritik am Hitler-Stalin-Pakt war es, die die Balten ermutigte, den Weg der nationalen Unabhängigkeit zu beschreiten. Jakowlew, der „Lautsprecher Gorbatschows“, ist das Haßobjekt der nationalistischen „Pamyat“. Der Marktwirtschaftler und Reformer Schatalin unterstützt sozialdemokratische Positionen. Von ihm soll das Wort stammen, daß Perestroika nicht Umbau, sondern nur Neubau bedeuten kann. Als Gorbatschow in der letzten Woche den Fahrplan für die Einführung einer kontrollierten Marktwirtschaft bekanntgab, konnte man in den Tagen darauf die Umsetzung der nächsten Schritte in Artikeln von Schatalin nachlesen.
Über einige Ratsmitglieder ist kaum etwas bekannt: Etwa Albert Kauls, ein Landwirtschaftsspezialist aus Lettland. Er soll dort einmal der Volksfront angehört haben, heute wird er den Gemäßigten in der Baltenrepublik zugerechnet. Oder der blasse Juri Masljukow, PB-Mitglied und Vorsitzender von Gosplan, dem staatlichen Plankomitee. Qua Amt ist der konservative Technokrat für fast alle Versorgungskrisen zuständig.
Wenig Profil hat bislang auch Juri Osipjan gezeigt. Auf dem Kongreß der Volksdeputierten ist er ein paar mal als Anhänger der Marktwirtschaft aufgefallen.
Jewgeni Primakow war bis vor kurzem Vorsitzender der Unionskammer im obersten Sowjet. Anfang März wurde er seines Postens enthoben. ZK-Mitglied Primakow ist ein typischer Vertreter der „Tauwetter-Generation“. Noch vor Gorbatschow zählte er zu den wenigen Progressiven innerhalb der KP. Inzwischen haben ihn die stürmischen politischen Veränderungen links liegen lassen. Aus der Versenkung aufgetaucht ist Grigori Rewenko, heute Volksdeputierter. Er war 1986, als es zur Katastrophe in Tschernobyl kam, der einzige KP-Mann in Kiew, der die Politik der Verheimlichung und Verharmlosung nicht mitmachte. Weil er Glasnost forcieren wollte, mußte er damals seinen Posten räumen.
16. und letzter ist Valeri Boldin. Der Volksdeputierte ist Mitglied der Kommission des ZK der KPdSU für Parteiaufbau und Kaderpolitik, zudem Volksdeputierter. Sogar die 'Tass‘ weiß kaum etwas über ihn, er zählt zu den bislang Unbekannten.
Der Präsidentenrat wird „die wichtigsten Maßnahmen zur Realisierung der Hauptrichtungen der Innen- und Außenpolitik der UdSSR sowie zur Gewährleistung der Sicherheit des Landes ausarbeiten“, so heißt es schwerfällig bei der Nachrichtenagentur 'Tass‘. Flapsiger sagen die Moskauer: Das ist Gorbis letztes Aufgebot für die Perestroika.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen