Wohin Effendi?

■ Auf den Spuren Karl Mays

Hermann Schlösser WOHIN, EFFENDI?

Auf den Spuren

Karl Mays

Tagelang, nächtelang, wochenlang war ich in Karl Mays Büchern unterwegs. Ich lachte über Sam Hawkins und den Hobble-Frank, bewunderte Old Shatterhand und weinte aufrichtig, als Winnetou starb.

Stärker noch als die Wildwestromane fesselten mich aber die Orientgeschichten. Schon ihre Titel zogen mich magisch an: Durch die Wüste, Durchs wilde Kurdistan, Von Bagdad nach Stambul. Das klang nach Wasserpfeifen und Wunderlampen, nach Haremsdamen und Hadschis. Wie sich ein zwölfjähriger deutscher Bub eben das Morgenland erträumt. Daß die Wirklichkeit anders aussähe, ahnte ich schon. Das Stambul des Romans unterschied sich deutlich vom Istanbul der Tagesschau. Aber das bewies nichts.

Was die Titel versprachen, hielt der Text: „Und es ist wirklich wahr, Sihdi, daß du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubiger, der verächtlicher ist als ein Hund, widerlicher als eine Ratte, die nur Verfaultes frißt?“ Durch die Wüste, erster Satz. Den Wörtern aus dem Orient war ich sofort verfallen. Sihdi, Giaur, das kannte ich nicht, und darum war es schön. Die gewissenhaften Fußnoten, die in keiner Karl-May-Ausgabe fehlen, haben mich nie interessiert.

Ich las und las, den Gesetzen der Wüste und des Fortsetzungsromans folgend. Nach dreimal 400 Seiten erreichte ich den Schlußsatz: „Ich hatte geglaubt, Edirne in der Richtung nach Felibe verlassen zu können; nun aber ging es anders, nach Westen zu, an der Arda hin, größeren Anstrengungen und Gefahren entgegen, als wir ahnten. - “

Das ist bis hin zum bedeutsamen Gedankenstrich eine deutliche Aufforderung zum Weiterlesen. Und trotzdem brach meine Karl-May-Lektüre an dieser Stelle ab. Ins Land der Skipetaren bin ich bis heute nicht vorgedrungen. Und Dschinnistan, das sich der alte May als Homeland seiner „Edelmenschen“ erträumte, blieb mir erst recht verschlossen.

Ich wandte mich lieber Edgar Wallace zu: Der sechste Sinn des Mr. Reeder. Wahrscheinlich hielt ich Kriminalromane für „erwachsener“ als Reise- und Abenteuergeschichten, denen ja doch oft ein Hauch von Jugendbücherei anhaftet.

Intensiv war also die Begegnung mit Karl May, aber kurz. Eine fieberhafte Lesesucht, mit Höhepunkt im Orient, und dann ein plötzliches Ende mit nachfolgender Ermüdung. Die Ähnlichkeit dieser Leselust mit sexuellen Erlebnissen ist wahrscheinlich kein Zufall. Wie alle Abenteuergeschichten sind auch Karl Mays Romane voll unterschwelliger (homo)sexueller Andeutungen. Arno Schmidt hat sie - zum Teil buchstäblicher als nötig - entziffert. Pierre Brice und Lex Barker

Später begeisterten mich Winnetou und Old Shatterhand noch einmal: Pierre Brice und Lex Barker auf der Leinwand. Aber das war Kino und gehorchte anderen Regeln. Kein Karl-May -Film konnte mich je zum Wiederlesen der Bücher animieren. Das wäre mir geradezu wie ein Rückfall in ein überwundenes Lebensstadium vorgekommen.

Mittlerweile bin ich alt genug, um gelegentlich ganz gerne einmal zurückzufallen. Spuren Karl Mays habe ich deshalb zunächst in mir selbst gesucht. Sie lassen sich leicht verallgemeinern: Wenn man Karl Mays Bücher das erste Mal liest, bersten sie sozusagen vor farbigem Leben. Der Autor verfügt über genau den Vorrat an Requisiten und Kulissen, die der naive Leser erwartet: Basare, Harems, wilde Ritte, geraubte Jungfrauen, flatternde Burnusse - alles da. Auch um volltönende Redensarten ist der Autor nie verlegen: „Auf deinen Wangen glänzt das Licht Schetang, und dein Antlitz ist lieblich wie der Kelch Sumbul.“ So, oder ähnlich geht das seitenlang. Mit solch prächtigen Reden kann man Kinder und nicht nur sie! - bezaubern.

Und doch befriedigen all die seltenen Wörter und Bilder aus der Fremde den Leser nicht auf Dauer. Sie helfen nämlich nicht über das ausnehmend dürftige Handlungsschema hinweg. Kara ben Nemsi kommt irgendwo vorbeigeritten, irgendein Zwist entzweit gerade die Eingeborenen, der Held eilt den Guten zu Hilfe und bestraft die Bösen. Dies aber nur mit Maßen, denn jedem unnötigen Blutvergießen ist er abhold.

Das ist alles. Daher die baldige Ermüdung des Lesers. Mit immer neuen Variationen dieser banalen Story hat Karl May Zehntausende von Seiten gefüllt.

Nun gibt es ernst zu nehmende Leute, die zumindest das Alterswerk Karl Mays von diesem Vorwurf der abgrundtiefen Banalitäten ausnehmen wollen. Arno Schmidt und Hans Wollschläger vor allem haben immer wieder „Lanzen gebrochen“ - welch angebrachter Ausdruck - für die Romane Im Reiche des silbernen Löwen, Ardistan und Dschinnistan und Winnetous Erben. Diese Bücher, heißt es, seien keine Reiseschmöker mehr, sondern mystische Allegorien vom Guten und Bösen, vom Edel- und vom Untermenschen. May als Volkserzieher

Nun glaube ich nicht, daß mir das soviel besser gefällt. Denn genau das Übermenschenpathos ist mir auch in den früheren Romanen schon unangenehm aufgestoßen. Natürlich muß in einem ordentlichen Abenteuerroman der Hauptheld alles können. Aber bei Karl May wird diese Omnipotenz immer gleich tugendhaft erhöht. Kara ben Nemsi ist eben nicht einfach ein Mordskerl im mehrfachen Sinne des Wortes, sondern auch ein Musterdeutscher und Vorzeigechrist. Karl May wollte ja immer mehr sein als ein bloßer Heftchenautor. Er sah sich als Volkserzieher, als religiösen Weisen, kurz, als Dichter. Wenn nun gerade das im Alterswerk ins Zentrum rückt, wird mir eigentlich nicht wohl dabei. Zur Versenkung in Karl Mays Mystik habe ich wenig Lust. Vielleicht kommt sie noch, wer weiß.

Vorläufig bleibe ich in der Wüste der Orienterzählungen. Die Handlungsabläufe sind wie gesagt nicht sehr phantasievoll, obwohl sie luxuriös dekoriert sind. Das ist merkwürdig, denn Phantasie wird man dem Erzähler May zu allerletzt absprechen. Es weiß ja mittlerweile jedes Kind, daß Kara ben Nemsi und Old Shatterhand erfundene Figuren sind. Jede Ähnlichkeit mit ihrem Erfinder ist aber nicht rein zufällig, sondern mühsam erarbeitet.

Karl May stammte aus Hohenstein-Ernstthal, einer kleinen Gemeinde im Erzgebirge. Der Vater war Weber, sehr arm, sehr unzufrieden. Dem Sohn sollte es einmal besser gehen. Realistischerweise konnte das etwa heißen: Volksschullehrer -Laufbahn. Dem Kind wurde Aufstiegswillen eingepflanzt. Zugleich wurde es mit biologischen, geographischen und historischen Kenntnissen vollgestopft. Als Vorbereitung fürs Leben. Diese Belesenheit merkt man allen Büchern Karl Mays nur allzu deutlich an. Kein Baum bleibt unbezeichnet, jeder Landstrich erhält seinen geographisch exakten Namen, oft sogar in mehreren Sprachen. In Algerien heißt die Salzwüste „Schott“, in Tunesien hingegen „Sobha“ oder „Sebcha“. Mit derartigen Kenntnissen tut Karl May sich ständig altklug hervor. Und manchmal schwingt er sich sogar zu völkerkundlichen Abhandlungen auf. Dabei gibt er sich gern wissenschaftlich, erörtert verschiedene Hypothesen und entscheidet sich schließlich nach reiflicher Erwägung für die eine oder andere.

Diese Ausbreitung gelehrter Lesefrüchte verhüllt aber nur sehr notdürftig das Grundproblem der Mayschen Reiseromane: Karl May ist nie gereist. Sein sächsisches Vaterland konnt er erst hinter sich lassen, nachdem er sich mit seinen Büchern die Mittel fürs Reisen erschrieben hatten.

Nun war zwar Dante nie im Inferno und Jules Verne nie auf dem Mond. Aber sie haben das auch beide nie behauptet. Am fiktionalen Charakter ihrer Reisen bestand kein Zweifel. Karl May dagegen hat erst sehr spät - und auch da nur halbherzig - zugegeben, daß er in Wahrheit nie gereist ist. Er brauchte die Selbstinszenierung zum Westmann und zum Orientalisten nämlich nicht nur für seine Bücher. Er wollte sich vielmehr auch im Leben eine neue Identität erzwingen. Zu diesem Zweck schaffte er Jagdtrophäen, Waffen, arabische Reisepässe an. Er verschickte Photographien, die ihn mit Henrystutzen und Türkensäbel abbildeten. Sachverständige bescheingten ihm die Kenntnis von mehr als vierzig Sprachen. Schließlich kaufte er sich einen Doktortitel, den er vorher schon, sozusagen als Künstlername, geführt hatte.

All diese Accessoires waren Karl May wichtiger als die Reiseabenteuer selbst. Mit ihnen wollte er seine ärmliche Herkunft und vor allem deren schmachvollste Auswirkung verdecken. Edler Räuber

Auch als Kind kannte ich schon die Geschichte von Karl May, dem Kriminellen. Aber erst heute begreife ich ihre Schlüsselstellung im Leben des Autors. Als junger, bettelarmer Lehrer beging Karl May einige kleine, aber auch ein paar nicht so kleine Diebstähle. Nicht Armut allein scheint ihn dazu getrieben zu haben, sondern auch die Unscheinbarkeit seiner Stellung. Er wollte auffallen. Also wurde er zum edlen Räuber, wie er ihn aus Romanen a la Rinaldo Rinaldini kannte, die im frühen 19. Jahrhundert außerordentlich populär waren.

Was dem Romanhelden aber Ruhm und Ehre einbringt, brachte den armen Junglehrer ins Gefängnis. Insgesamt sechs Jahre lang saß er in Haft. Diese Erniedrigung scheint Karl May durch die Taten seiner grandiosen Doppelgänger kompensiert zu haben. Mit ihren erfundenen Weltreisen entkam er dem dunklen Fixpunkt seines Lebenslaufs.

Diese Verdrängung des Traumas funktionierte zunächst gut. Old Shatterhand, Kara ben Nemsi und ihre Gefährten verhalfen ihrem Erfinder zu Wohlstand und bürgerlicher Reputation. Gegen Ende des 19.Jahrhunderts saß Karl May in seiner Radebeuler „Villa Shatterhand“ und erwartete einen sorgenfreien Lebensabend.

Aber das Leben, vor allem das bürgerliche im wilhelminischen Deutschland, ist nun einmal kein Roman. Bis zum seligen Ende durfte Karl May seine fiktive Wunschbiographie nicht aufrechterhalten. Aus komplizierten urheberrechtlichen, aber auch aus sogenannten „moralischen“ Gründen sahen sich einige seiner Gegner genötigt, den Hochstapler zur Strecke zu brinen. Man grub die alten Prozeßakten aus, veröffentlichte sie. Und der eben noch geschätzte christliche Volkserzieher stand als Heuchler, Lügner und Verbrecher da.

Er wehrte sich - vor Gericht, aber auch literarisch. 1910 schrieb er Mein Leben und Streben, eine angeblich schonungslos ehrliche Autobiographie. Tatsächlich ist auch dieser Text durchzogen von sentimentalen und selbstgefälligen Posen. Karl May war zu jeder Mystifikation seiner Person imstande, nicht aber zur peinlichen, faktischen Wahrheit.

Die große Heldenrolle nahm ihm natürlich niemand mehr ab. Also stilisierte er sich zusehends zum christusähnlichen Schmerzensmann, in dessen Seele der ewige Menschheitskampf zwischen Gut und Böse ausgefochten wird. Diese neue Selbstdefinition gab ihm schließlich den bombastischen Satz ein “...ich, mein Freund, ich bin die Menschheitsfrage“.

Das grandiose Ich war also noch einmal gerettet, auch nachdem man ihm seine Projektionen Old Shatterhand und Kara ben Nemsi entzogen hatte.

So durchflogen die Traumreisen des sächsischen Schulmeisters Orient und Okzident, Himmel und Hölle, um endlich dort anzukommen, wo er sich schon immer sah: ganz oben. Mays einziger Lyrikband heißt Himmelsgedanken.

Seine letzte wirkliche Reise auf dieser Erde unternahm Karl May 1912 nach Wien. Die ehrenhafte Pazifistin Bertha von Suttner hatte ihn zu einem Vortrag eingeladen. Im Alter war Karl May pazifistisch eingestellt. Der Titel seines Vortrags entbehrte jedoch nicht eines schneidigen Untertons: Empor ins Reich der Edelmenschen hieß er und handelte von Dschinnistan, dem Reich der Besten.

Es heißt, daß damals, am 22.3.1912, auch der junge Adolf Hitler dem Märchenerzähler May aufmerksam zugehört hätte.