: Narziß ohne Spiegel
■ Fotos von Evgen Bavcar in der Ruine der Künste Berlin
Ihm habe Ostberlin besser gefallen, sagte er, weil es stiller und leerer sei; das Gespräch mit dem Grenzoffizier am Brandenburger Tor, der überzeugt werden mußte, ihn als blinden Ausländer hier durchzulassen, habe ihn sehr amüsiert. Er habe ja die Gesichter der Umstehenden nicht sehen können, als er sie fragte, wo genau sich das Brandenburger Tor denn befinde, er müsse es unbedingt fotografieren. Das allerbeste an Berlin seien freilich die Töne der Mauerspechte gewesen - ein einzigartiges Geräusch auf dieser Erde, mit dessen Hilfe sogar ein Blinder die Stadt eindeutig identifizieren kann. So ein durchlöchertes Mauerstück habe er noch betasten können; das Mauergefühl trage er jetzt in seinen Fingerspitzen nach Hause.
Der dies sagte, Evgen Bavcar, gebürtiger Slowene, Forscher für Ästhetik am Centre National de Recherche in Paris, blind und daher zugleich mehr als gewöhnlich an Bildern interessiert, begann sich in der Pubertät für Fotografie zu interessieren, als er das Augenlicht schon durch zwei Unfälle verloren hatte: Er wollte wie alle Jungs seine Freundin fotografieren. Damals mußte ihm ein Freund auf einer sojwetischen Kamera noch die Schärfe nachziehen.
Als er im vergangenen Jahr von der Stadt Paris zum „Hoffotografen“ für die 200-Jahr-Feier der französischen Revolution bestellt wurde, konnte er mit einer automatischen Canon das Geschehen dokumentieren. Wie er erzählt, bewegt er sich häufig allein durch Paris, dessen verschiedene Stadtviertel er an den Gerüchen ausmachen kann; er läßt sich gelegentlich von Passanten die genaue Lage der Objekte zeigen, um dann unbemerkt die Leute während des Erklärens zu fotografieren.
Er ist nun zum ersten Mal nach Berlin eingeladen worden, um sich anhand einer Fotoarbeit rund um die Ruine der Künste Berlin auch hier als Fotograf vorzustellen. Bis Ende April gibt es das Ergebnis als kleine Fotoausstellung dort zu sehen.
Zum Thema „Innen Und Außen“ zeigt Bavcar Bilder, die zunächst den Ausstellungsort, die Ruine mit ihrer von den Einschüssen der Roten Armee immer noch zerlöcherten Fassade und ihren von Wolf Kahlen zu Ausstellungzwecken neu gestalteten Innenräume thematisieren. Es gelingt ihm, den Innen- und Außenraum sogar innerhalb eines Fotos miteinander zu konfrontieren: als hätte er den Film nur halb transportiert, teilt ein schwarzer Balken das Bild in Innen und Außenansicht des Hauses, läuft die vertikale Linie der Fassade beispielsweise gegen die horizontale der Fußbodenlinie an.
Zugleich ist das Spannungsverhältnis zwischen Außen- und Innenraum aber Movens seines Fotografierens überhaupt: Die Technik ermöglicht ihm, diese beiden Räume stärker miteinander in Fühlung zu bringen. Mit Hilfe der Fotografie, die er an die Stelle seines toten Auges setzt, bietet er seinen Blick an, zeigt er den anderen, was sie gesehen haben könnten, fordert er zur Beschreibung auf. Über das Bild, als „absoluter Voyeur“, will er die Erzählung zurückholen. Immer mehr Licht wolle er auf diese Weise gewinnen, sagt er, er brauche diesen Blick des anderen, damit in ihm Bilder entstehen. Da ihn nicht die Wiedergabe als solche, sondern der lichtbringende Akt interessiert, fotografiert er ohne genaue Fokussierung, mal aus der Hüfte heraus, mal mit der Kamera vor dem Mund. Er will, daß sein Gegenüber, wenn er es fotografiert, spricht. Er läßt sich die Umgebung beschreiben. Er fragt gelegentlich nach Details.
Die Fotos in der Ausstellung haben indes nichts Spontanistisches; sie stellen eine strenge Auswahl höchst artifizieller Kompositionen dar. Vielleicht spiegeln sie ein wenig die Auswahlkriterien der beratenden Bildinterpreten, denn wie hätte Bavcar wissen können, daß die zufällig im linken oberen Eck erwischte Neonröhre eine raffiniertre Bildkomposition mit Diagonale ergibt? Es überrascht jedoch durchgehend sein kompositorischer Witz, wenn er abgeschnitten wirkende Hände nebeneinander aus dem Sand herauswachsen läßt, oder in den Serien mit Papierbären das Motiv mit dem Hintergrund verschmilzen läßt.
Am typischsten sind vielleicht die Fotos mit den expressiven Hell-Dunkel-Kontrasten, die das hell erleuchtete Haus zuwischen den schwarzen Bäumen gespenstisch wie in einem Hitchcock-Film dastehen lassen. Man spürt in diesen Fotos etwas von Bavcars Leidenschaft für das Licht, und von der Anstrengung, die es kostet, dem Schwarz etwas Sichtbares abzuringen. Im nächsten Moment ist es dann schon zu hell, blendet, wird vergangen sein wie ein Fotoblitz.
Bavcar erzählt von seiner Vorliebe für Aktfotografie; wahre Nacktheit existiert für ihn nur im Dunkeln, im Moment der Aufhellung hat sich schon ein Schleier darübergelegt. Er experimentiert daher viel mit sparsamer Lichtgebung, besonders gerne mit Taschenlampenkegeln. Nicht zufällig ist Kasimir Malewitsch sein Lieblingsmaler; wie dieser möchte er hinter das Sichtbare zum Unsichtbaren zurück, lockt ihn das, was hinter dem schwarzen Rechteck ist.
In dem Kamerakarussel während der Pressevorführung hat Bavcar den Pressefotografen schon fünfmal geknipst, bis dieser ein einziges Mal abgedrückt hat: Noch nie wurde unser objektivistischer Bilderwahn besser als durch diese tote Augen ad absurdum geführt.
Michaela Ott
Bis 30.April 1990, täglich von 17 bis 20 Uhr, in der Ruine der Künste Berlin, Hittorfstraße 5, Berlin 33
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