: Krankheit - Kondome - Killing role
In München diskutierten Sozialwissenschaftler und Aids-Berater ungestört von seuchenpolitischen Zwangsvorstellungen über die psychosozialen Folgen der HIV-Krise / Kontroverse Debatte über Infizierungswünsche und Entscheidungsfreiheit / US-Wissenschaftler sieht deutlich „Licht im Tunnel“ ■ Von Manfred Kriener
München (taz) - Als in der prachtvollen Aula der Münchner Universität vergangene Woche der bisher größte Kongreß zu psychosozialen Problemen mit HIV und Aids begann, trat Staatssekretär Peter Gauweiler vor das Mikrophon und eröffnete ein paar Steinwürfe von der Uni entfernt die Ausstellung „Wohnmodelle in Bayern 1850 bis heute“. Das hat dem Aids-Kongreß und Herrn Gauweiler gutgetan. In der Aula hätte dem Ex-Seuchenpolitiker vermutlich sein Haar zu Berge gestanden, denn dort sprach zur selben Zeit der Berliner Sozialwissenschaftler Wolfgang Heckmann von „Rammeln, Bumsen und Vögeln, um gerade in einem solchen Tempel einmal die Dinge beim Namen zu nennen“. Soweit ist es also schon gekommen, daß an einer bayerischen Universität, nur ein Stockwerk unter dem Lehrstuhl für Kirchengeschichte, dem Holzpenis als Unterrichtsmodell für Schulen zur Demonstration fachgerechten Kondomanlegens das Wort geredet wird. Kein Einzelsymptom: Die ganze Tagung verlief derart locker, daß sich der Heidelberger Psychologe Ulrich Clement in seinem Arbeitskreis wunderte, wie sehr sich doch die Zeiten geändert hätten und wie offen und zeigefingerfrei ausgerechnet hier in München zum Beispiel über „un-safen“ Sex gesprochen wurde, über Probleme, die sonst eher vor Landgerichten verhandelt werden, und nicht nur vor bayerischen. Der Wind hat sich ganz offensichtlich gedreht. Ein Fürsprecher repressiver Maßnahmen gegen Aids war zumindest auf diesem Kongreß nicht mehr auszumachen.
„Ungeheure
Angstmengen“
Falls doch einer unerkannt dazwischensaß, bekam er schon zu Beginn heftige psychoanalytische Prügel vom Frankfurter Medizin-Psychologen Michael Moeller. Der hatte nämlich alle Arten von Gauweilereien als irrationale und „extreme Form der Angstabwehr durch extreme Maßnahmen“ gedeutet. Moeller stellte noch andere Auswege vor, mit den „ungeheuren Angstmengen“ von Aids fertigzuwerden. Das fängt mit der Verleugnung und ihrer rationaleren Schwester, der Bagatellisierung, an. Auch das berufliche Engagement für das Thema Aids biete gute Abwehrmöglichkeiten. Die Spezialisierung und Aufteilung in einzelne Berufsfelder garantiere nämlich, daß „wir nicht mit der ganzen Wucht der Bedrohung zu tun haben und uns nur einem kleinen Ausschnitt des Gesamtphänomens Aids widmen können“. Moeller nennt das „Fraktionierung“, was nichts anderes sei als partielle Verleugnung.
In den Mittelpunkt der Angstabwehr stellte der Frankfurter Ordinarius seine These der killing role. Damit meint er die unbewußte Identifikation mit einer tödlichen Krankheit und die Übernahme deren destruktiver Rolle anderen gegenüber. Moeller sieht die killing role am Werk, wenn etwa mit besonders aggressiver Wucht das Elend, Sterben und Unversorgtsein vieler Aids-Kranker geschildert wird. Wie ein viraler Angriff werde dem Gegenüber das Unheil entgegengeschleudert. Auch die „heftige“ Berichterstattung in den Medien und alle Arten von finsteren Horrorgemälden, also das ganze apokalyptische Geschwätz, sind für Moeller Ausdruck einer unbewußten Nähe zur killing role: Von Aids bedroht, schlüpft der Mensch selbst in die Rolle des Virus.
Der Frankfurter Wissenschaftler grub zum Teil sehr tief im psychoanalytischen Schatzkästlein. Die - naheliegende und leicht einzusehende - Verweigerung eines HIV-Tests bei vielen Menschen mit erhöhtem Risiko sieht er nicht nur als nützlichen Schutzwall vor den Angstfluten, die bei einem positiven Befund die Immunabwehr vollends niederzureißen drohen, sondern auch als Reflex auf innere aggressive Triebanteile, die bei einem positiv Getesteten „Mordimpulse aktualisieren können“. Einfacher ausgedrückt: Wer positiv ist, müsse erst mit der Tatsache fertig werden, daß er als potentieller Virusüberträger jemand anderen umbringen kann.
Sicherlich umstritten ist Moellers Theorie der Todessehnsucht: „Aids zieht und lockt unsere Seele in den Tod.“ Das Gemeinsam-Sterben-Wollen bei vielen homosexuellen Paaren nannte er als Beleg, aber auch die Fluchtreaktionen unter den 25 Mitgliedern einer französischen Versuchsgruppe, die ihre Ernährung auf eine immunstabilisierende Kost umgestellt hatten, interpretierte er entsprechend. Trotz deutlicher Besserung des Befindens hätten 19 Mitglieder die „Immunkost“ wieder abgesetzt. War's wirklich die Todessehnsucht? Oder hat's ganz einfach nicht geschmeckt?
Moellers Hinweise auf die immunstärkende Kost („die Ernährung ist die Nachfolgerin der Mutter“) weckte jedenfalls riesiges Interesse, zumal er von „unbestreitbaren Erfolgen“ und der Rückbildung „schwerer Aids-Symptome wie des Karposi-Sarkoms“ (einer speziellen Form des Hautkrebses bei Aids) berichtete. So wurde die Psychoanalyse am Ende noch sehr konkret und hoffnungstiftend.
Die von Moeller thematisierte Sehnsucht von manchen Aids -Beratern, aber vor allem von Partnern, sich ebenfalls mit HIV zu infizieren, um die Trennung zum anderen aufzuheben, wurde in einem der Arbeitskreise vertieft. Dort berichteten gleich mehrere Berater über die schwierige Situation der „gemischten“ Paare, bei denen eine Person HIV-positiv, die andere negativ ist. Oft sei es hier gerade der negative Partner, der Safe-Sex ablehne und es darauf ankommen lasse. Die große Liebe zum Partner, die vor dem Tod nicht haltmachen will, der Wunsch nach einem gemeinsamen Schicksal, der Wunsch, gleich zu sein und Trennendes aufzuheben, wurden als Motive erkannt. Manche HIV-Positive verlassen solche Beziehungen, um den Partner nicht zu gefährden. In anderen Fällen sollen sich negative Partner außerhalb der Beziehung bewußt infiziert haben, um endlich auch positiv zu sein.
Viele Aids-Berater reagieren mit Entsetzen auf die unbewußten, manchmal aber auch ganz offen geäußerten Infizierungswünsche. Andere wie der Mainzer Aids-Helfer Kajo Pieper verteidigen vehement die Entscheidungsfreiheit jedes einzelnen, die auch das Recht umfasse, sich das Virus zu holen. Andere gingen noch einen Schritt weiter: „Romeo und Julia, das ist doch wunderbar.“ Und: „Was ist denn eigentlich so schlimm, wenn man stirbt? Muß ich unbedingt 70 werden?“ Daß solch eine Diskussion stark vom Leid und den Folgen der Krankheit Aids abstrahiert, wurde leider nur in der Kaffeepause kritisiert. Aber auch der Romeo-und-Julia -Vergleich ist schief. Denn die herbeigesehnte Gleichzeitigkeit und Gleichheit ist schon deshalb eine Fiktion, so eine Frankfurter Beraterin, weil die Krankheitsverläufe bei zwei Menschen in der Regel sehr unterschiedlich sind.
Der sexuelle Rückzug
als Antwort auf Aids
Ein weitverbreitetes Symptom im Zeitalter von Aids ist der sexuelle Rückzug, der vor allem unter Homosexuellen stark ausgeprägt ist. Aus Angst vor einem sexuellen Erlebnis gingen manche nur noch zum Arbeiten und Einkaufen vor die Türe. Vereinsamung und die Masturbation als sexuelles Reservat seien die Konsequenz. Sollen die Aids-Berater Schwule wieder zu mehr partnerschaftlichem Sex motivieren? Und was ist, wenn jemand „das Kondom nicht auf die Reihe kriegt“? Der Forderung, für Positive als Ausweg mehr Öffentlichkeit, mehr Lokale und Treffs zu schaffen, stand die berechtigte Frage von Ulrich Clement gegenüber, ob der Trend, die Positiven auf Kontakte „unter ihresgleichen“ zu reduzieren, nicht gefährlich sei. Die Zweiteilung der Welt in positiv und negativ?
Deutlich geringer als bei Schwulen ist die Kondomakzeptanz bei Drogen-Usern. Und das gilt nicht nur für Abhängige mit fatalistischer Grundstimmung. Eine Gesundheitsberaterin berichtete über das spezifische Problem von inzwischen cleanen Frauen, die sich schon deshalb gegen ein Kondom wehren, weil es sie sehr direkt an die Beschaffungsprostitution erinnert: „Kondom anwenden heißt den Partner ablehnen.“ Das Kondom hole sie zurück in ihre Drogen- und Prostituiertenzeit. Mit einer „Technischen Anleitung Lust“, also mit der alleinigen Kondompropagierung, ist es offenbar nicht getan. Aids-Berater Kajo Pieper sieht die Adressaten der Kondomisierung mit ihren Problemem alleingelassen.
Doch trotz der bekannten Probleme mit Safe-Sex und der wackligen Kondomanlegequote gibt es bis heute bundesweit nur ein einziges kommunikatives Aids-Projekt, also einen Ort, wo über Sex gesprochen, wo Safe-Sex gelernt werden kann. Warum das so ist, erklärte der Kölner Sozialwissenschaftler Prof. Siegfried Dunde. Er wies auf die geradezu pathologische Distanz staatlicher Stellen zur Homosexualität hin. Die massive Angst, in den Verdacht zu geraten, die Homosexualität zu fördern, habe die Unterstützung kommunikativer schwuler Aids-Projekte bisher verhindert: verquaste Sexualvorstellungen und finstere Vorurteile als wirksame politische Größe. Dieselbe Berührungsangst vor der Homosexualität und vor Drogenabhängigen zeigt sich in der gesamten Präventionsstrategie. Dunde kritisierte die Dauerberieselung für nicht oder kaum Betroffene, während für die eigentlichen Risikogruppen das Geld fehle. So müßten denn auf dem flachen Land Aids-Berater die Feuerwehr Niedereichingen in ihrem Abwehrkampf gegen das Virus stärken, während dieselben Berater in den Großstädten dringend gebraucht würden.
Auch die Fernsehwerbung, in der Homo- und Bisexualität sowie Drogengebrauch nicht stattfindet, sei Bestandteil einer Überinformation derjenigen, „die sich schon gewaltig anstrengen müssen, um mal mit einem Virus in Kontakt zu kommen“. In der systematischen Ausblendung der Hauptbetroffenengruppen in den Fernsehspots gibt es eine wunderschöne Ausnahme. Dunde berichtete über die folgenschwere freudsche Fehlleistung einer Sekretärin in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, dem Brain -Trust bundesdeutscher Aids-Prävention: Als eben diese Sekretärin nämlich den Text eines Aids-Aufklärungsfilms niederschrieb, in dem die lange Beziehungskette eines Mannes durch den Massenauftritt diverser weiblicher Schatten samt deren Vorname (Renate, Monika, Ines usw.) sichtbar werden sollte, tippte die Dame irrtümlich statt Maria den Namen Mario. So zog die Bisexualität ins Deutsche Fernsehen ein - erstmalig und einmalig.
Dunde, der selbst lange Zeit im früheren Süssmuth -Ministerium saß und weiß, wovon er spricht, wirft den staatlichen Stellen nicht nur Betroffenenferne vor, sondern eine verhängnisvolle Dualität. Einerseits werde der Zugriff auf die Betroffenengruppen gesucht, um sie zu Verhaltensänderungen zu zwingen, andererseits werde denselben Gruppen die politische Hilfe zum Beispiel durch antidiskriminierende Gesetze bei Schwulen, durch Methadonprogramme und legalisierende Maßnahmen bei Drogengebrauchern verweigert.
Aber was hat Diskriminierung mit Aids zu tun? Ein Beispiel: Der Münchner Psychologe Günter Reisbeck berichtete über eine Untersuchung zur Krankheitsbewältigung bei offensiven und bei heimlichen Schwulen. Ergebnis: Offensive Schwule haben deutlich günstigere Prognosen, weil sie über ein besseres soziales Netz, über mehr Kontakte und Gesprächspartner verfügen. Heimliche Schwule, die nicht selten verheiratet sind, bleiben mit dem Problem und der Infektion häufig allein. Man könnte ihnen helfen, indem man die gesellschaftlichen Barrieren niederrisse, die dem Akzeptieren der eigenen Homosexualität im Wege stehen. So können antidiskriminierende Maßnahmen, zum Beispiel die Anerkennung und Gleichstellung homosexueller Ehen oder die Abschaffung des Paragraphen 175, ganz konkret den Kampf gegen Aids unterstützen. Andersherum: Die Unterlassung dieser gesellschaftspolitischen Liberalisierung fördert die Immunschwäche.
Das Prinzip Hoffnung
Eine amerikanische Untersuchung, über die der Psychotherapeut Jeffrey Mandel aus San Francisco berichtete, fand heraus, daß die Hälfte derjenigen Patienten, die ihre Infektion und die ersten Symptome ihrer Erkrankung verheimlichen, auch ihre Homosexualität verheimlichen. Mandel stellte Hoffnung und Streß als Gegensatzpaar und wichtigste Kofaktoren in der Auseinandersetzung mit HIV und Aids heraus. Und Mandel selbst verbreitete Hoffnung, trotz der deprimierenden Zahlen aus seiner Stadt, wo inzwischen von einer dreiviertel Millionen Einwohnern mehr als 8.000 Personen an Aids erkrankt sind; das sind fast doppelt soviel wie in der gesamten Bundesrepublik. Mandel sieht die „außerordentliche Wichtigkeit, Hoffnung aufrechtzuerhalten und diese Hoffnung in Überlebensstrategien umzuformen“. Hoffnung werde dort zunichte gemacht, wo sich Patienten selbst die Schuld an der Infektion zuschreiben. Auch in San Francisco seien die meisten Patienten zu einem Zeitpunkt mit HIV infiziert worden, bevor ihnen bekannt war, daß es dieses Virus überhaupt gibt. Die mittlere Inkubationszeit bei Aids
-die Zeit zwischen Infektion und Ausbruch der Krankheit bezifferte Mandel auf 11 Jahre. Aber auch nach 12 oder 15 Jahren seien noch nicht alle Infizierten erkrankt, „für viele Menschen bedeutet dies ein langes, sicheres Zeitpolster, in dem wir mit Sicherheit große Fortschritte in der Therapie machen werden“. Der amerikanische Wissenschaftler ist zuversichtlich, daß Aids „bald wie eine chronisch virale Infektion“ unter Kontrolle gebracht werden kann . In San Francisco sei die mittlere Überlebenszeit ab Diagnosestellung Aids inzwischen von einem Jahr auf zweieinhalb Jahre angewachsen. Und mit dem Virushemmstoff DDI stehe in den USA endlich ein weiteres Aids-Medikament zur Verfügung.
Heute komme es darauf an, die Patienten möglichst frühzeitig und noch vor Ausbruch der Symptome in die Arztpraxen zu bringen. Bei der Frühbehandlung mit dem Aids -Medikament AZT sieht Mandel allerdings erhebliche psychische Blockaden. Für viele Infizierte sei AZT der Anfang vom Ende. Und dies, obwohl das Medikament den Verlauf der Krankheit signifikant aufhalte. Aber die symbolische Bedeutung, AZT zu nehmen, sei nach wie vor abschreckend.
Mandel ermunterte Patienten und Betreuer aber auch ausdrücklich zu alternativen Behandlungsmethoden (Akupunktur, Streßabbautraining, Homöopathie, gesunde Ernährung). „Wir können unseren Patienten beim Streßabbau helfen, wenn wir sie ermutigen, aktiv gesundheitsfördernde Maßnahmen zu ergreifen, um so ein Stück Kontrolle über ihren Zustand herzustellen.“
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