: „Wir sind ganz normal“
■ Bei den Deutschen Meisterschaften über 100-Kilometer rennen Extremläufer stundenlang freiwillig im Kreis
Berlin (taz) - In den 70er Jahren liefen die Ultrajogger ins Abseits. In erster Linie waren es Abenteurer oder alternde Stars, deren Grundschnelligkeit nicht mehr ausreichte, um im Kampf auf der klassischen 42-Kilometer-Distanz vorne mitzuhalten. Sie wichen, wie der Brite Don Ritchie 1978, auf die 100-Kilometer-Strecke aus. Sechs Stunden und zehn Minuten lang drehte er seine endlosen Runden - in einem stinknormalen Stadion.
Anfang der 90er Jahre, längst ist der gewöhnliche Marathon zu einem allwöchentlichen Jedermannslauf geworden, konzidiert das Fachblatt 'Spiridon‘ überrascht: „Ultras im Aufwind!“. Wie Pilze schießen Wettbewerbe jenseits der 42 -Kilometer-Schallmauer aus dem Boden. Die Deutschen Meisterschaften über 100 Kilometer am 28. April in Hanau bilden nur den Auftakt einer Phalanx von Ultraläufen.
Er sei ein Mensch wie du und ich, beteuert der Berliner Dauerläufer Hans-Jürgen Seydler. Der 49jährige Handelsvertreter vom SC Charlottenburg Berlin, Dritter Deutscher Meister 1988 in knapp sieben Stunden, zählt in Hanau zu den Favoriten.
„Wenn früher jemand gesagt hätte, laß‘ uns ein wenig durch den Wald laufen, hätte ich gefragt: 'Was soll ich denn da?‘.“ Bis vor acht Jahren spielte Seydler lediglich ab und zu Volleyball, bis er während eines Frankreich-Urlaubs auf den Geschmack kam. Jetzt absolviert er vor wichtigen Wettkämpfen bis zu 260 Kilometer pro Woche. „An Wochenenden laufe ich einen Marathon ganz für mich alleine.“
„Wir sind trotzdem keine Außenseiter“, besteht seine Vereinskollegin Sigrid Lomsky auf eine nüchterne Einstufung der Laufmaschine. „Wir sind weder sehr karriereorientiert noch sonst irgendwie anders als Nichtläufer.“
Auch bei der Berliner Internistin begann alles ganz harmlos. Vor elf Jahren beschloß sie zu joggen, „um etwas Zeit für mich zu haben“. Nach 200 Metern mußte die Kettenraucherin und gestreßte Mutter zweier Kinder die erste Pause einlegen. Ob aus Trotz oder Spaß, sie machte weiter. 1981 lief sie ihren ersten Marathon, der ihr offenbar nicht lang genug war. Sieben Hunderter hat sie nunmehr auf ihrem Konto. 1989 wurde sie in 8:04 Stunden Deutsche Vizemeisterin.
Die Einsamkeit der Langstreckenläufer genießen die beiden Charlottenburger: Ihre Gedanken bei der Überwindung des inneren Schweinehundes drehten sich um Familie und Beruf, Gott und die Welt. Noch wichtiger ist jedoch ihr inniges Verhältnis zur Natur, die sie durchlaufen.
Im Gegensatz zu den Massenauftrieben bei Stadtläufen drehen die Extremisten des Ausdauersports ihre Kreise abseits der Häuserschluchten und Zuschauerpulks. „Man hat unendlich viel Zeit. Einen Rausch der Massen gibt es bei uns nicht“, beteuert Lomsky. Eigenartig, da die 100-Kilometer -Meisterschaften dann doch auf der Rundbahn und nicht etwa durch den Wald ausgetragen werden.
Psychische Trance-Zustände haben weder Seydler noch Lomsky jemals kennengelernt. Lediglich das Selbstwertgefühl steige. Und mit ihm die Entfernungen: Im letzten Jahr fand in New York ein Wettbewerb über 1.300 Meilen statt. Auf dem alten Kontinent boomt der legendäre Spartathlon von Athen ins 250 Kilometer entfernte Sparta. Allerdings müssen sich die Teilnehmer vor dem Start schriftlich verpflichten, daß weder sie noch ihre Hinterbliebenen Regreßansprüche an den Veranstalter stellen.
Jürgen Schulz
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