„Nicht nur die Stasi hat die DDR-Psychiatrie mißbraucht“

Auch Ärzte aus anderen Klinik- und Heimbereichen bedienten sich der Psychiatrie, um Menschen ruhigzustellen / MfS soll „Kooperationsverträge“ mit ärztlichen Direktoren geschlossen haben / Ingrid Giesewatrowski vom unabhängigen Untersuchungsausschuß gegen Amtsmißbrauch und Korruption zu den Zwischenergebnissen ihrer Arbeit  ■ I N T E R V I E W

Ingrid Giesewatrowski (49) ist Sonderpädagogin und arbeitet als Lehrerin in der Neuropsychiatrischen Klinik in Berlin. Im Untersuchungsausschuß gegen Amtsmißbrauch und Korruption recherchierte sie hauptsächlich Vorwürfe, die gegen medizinische und psychiatrische Einrichtungen erhoben wurden.

taz: Psychatrische Einrichtungen sind neuralgische Punkte einer Gesellschaft. Im Grenzbereich zwischen Wahn und Wirklichkeit können Betroffene sehr schnell zu Opfern werden - von politischem Mißbrauch und ärztlicher Amtsanmaßung. Auch in der DDR?

Ingrid Giesewatrowski:Wenn man überhaupt von Mißbrauch der Psychatrie spricht, muß man sehr differenzieren. Es ist nicht nur das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gewesen, das die Psychatrie im Zusammenhang mit der Justiz und auf Grundlage von vorhandenen Gesetzen mißbraucht hat. Auch betreuende Ärzte von Feierabendheimen und Ärzte aus anderen Kurheimen, haben Menschen durch Umgehung des Einweisungsgesetzes einliefern lassen.

Haben sie Beweise, daß die Stasi unliebsame Leute in der Psychiatrie verschwinden ließ?

Ganz konkret konnte ich bisher zwei Fälle recherchieren. Einer passierte 1987 in der Forensischen Psychatrie in Berlin-Buch. Hier wurde der damals 40jährige Willi Hübner (Name von der Redation geändert) nach einem mehrstündigen Verhör über die Staatssicherheit eingewiesen - unter Umgehung des Einweisungsgesetzes. Es war nachts, und er war hocherregt. Die aufnehmende Ärztin damals war Oberärztin Wende. Wie mir mein Informant berichtete, hat sie einen harten Kampf mit den Stasi-Leuten geführt.

Haben die sich als solche ausgewiesen?

Nach Ausagen des Patienten, ja. Frau Wende hat den Stasi -Leuten ganz klar gesagt, daß sie den Mann wieder entlassen würde, weil das Einweisungsgesetz umgangen wurde. Darauf hieß es, daß solle sie mal besser nicht tun. Aus ärztlicher Verantworung hat sie - als die Stasi weg war - Herrn Hübner gebeten, erst einmal da zu bleiben.

Haben sie mit Herrn Hübner gesprochen?

Ja. Er erzählte, daß er in einem Zustand gewesen ist, wo er sicherlich Dummheiten gemacht hätte. Er sagte, daß er dieser Ärztin sehr viel zu verdanken hat. Unter anderem, daß er sich nicht das Leben genommen hat.

Warum sollte Willi Hübner in die Psychiatrie?

Nach seinen Aussagen hatte er eine Freundin, die wegen Spionage inhaftiert worden ist. Von diesem Zeitpunkt an wurde er jahrelang von der Stasi observiert und mehrmals verhört. In dem Verhör vor seiner Einlieferung ging es wieder um diese Spionagegeschichte und seine Mitarbeit beim MfS.

Wie lange blieb er in der Klinik?

Sechs Wochen. Das ist die normale Frist, bis das psychatrische Gutachten erstellt ist. Oberärztin Wende hat ihn aber weniger wegen des Gutachtens dort behalten, sondern um ihn therapeutisch zu behandeln, da er sehr viele psychische Probleme hatte.

Konnte die Ärztin bestätigen, daß Herr Hübner durch die Stasi eingeliefert worden ist?

Ja, das hat sie mir gegenüber bestätigt, und es geht auch aus der Krankenakte hervor, die ich eingesehen habe. Frau Wende hat unter anderem den Namen einer der Männer, die Herrn Hübner eingewiesen haben, notiert. Dieser Mann hat nachweisbar im operativen Stab des MfS in der Normannenstraße gearbeitet.

Wo hat die Stasi noch mitgemischt.?

Im Fall von Otto Wilmer (Name von der Redaktion geändert). Herr Wilmer hatte eine auffällige Persönlichkeitsstruktur. Über Jahre hinweg hat er öffentlich politische Äußerungen gemacht: Es ging gegen den DDR-Staat, gegen die Staatssicherheit, aber auch zum Beispiel gegen Juden, eigentlich also gegen alles.

Das paßte der Stasi nicht.

In seinem Fall hat die Justiz den Mißbrauch mitbetrieben. Otto Wilmer stand 1976 wegen angeblichem rowdyhaften Verhalten in Eberswalde vor Gericht. Aus den Prozeßakten, die unser Kommitee eingesehen hat, geht hervor, daß keine Zeugen geladen wurden, die Tat vor Gericht nicht nachgewiesen werden konnte. Außerdem hatte Herr Wilmer weder einen Rechtsanwalt, noch einen Prozeßbevollmächtigten. Die Verhandlung fand vor der AbteilungI statt. Das war die Abteilung bei der Justiz, die vorwiegend politische Fälle verhandelt hat.

Wozu wurde Herr Wilmer verurteilt?

Laut Gerichtsbeschluß wurde er auf unbefristete Zeit zur Heilbehandlung in die Psychatrie eingewiesen. Das Urteil stützte sich auf ein neuropsychiatrisches Gutachten, ausgestellt von einem Neurologen, der eigens für das MfS gearbeitet hat. Nach Aussagen des ärztlichen Direktors der Psychatrie in Eberswalde, wo Herr Wilmer gelandet ist, sind diese Gutachten zu 90 Prozent nicht haltbar gewesen.

Wie hat sich der Direktor in Eberswalde verhalten?

Er wußte, daß der Mann durch die Stasi über das Gericht eingewiesen worden ist. Als er nach fünf Wochen immer noch keine Unterlagen, kein Gutachten hatte, hat er sie in einem sehr harten Brief an das Gericht gefordert. Erst dann wurden sie ihm zugestellt.

Wie lange saß Herr Wilmer in Eberswalde?

Von 1976 bis 1979. Normalerweise muß eine unbefristete Einweisung jedes halbe Jahr überprüft werden. Dies ist vom Gericht nicht gemacht worden. In den ganzen drei Jahre nicht. Das ist ungesetzlich.

Hätte die Klinikleitung nicht eingreifen können?

Nein, sie ist in solchen Fällen an den Gerichtsbeschluß gebunden. Der zuständige Arzt muß eine Überprüfung der Einweisung beantragen. Aber das ist auch passiert. Nur das Gericht hat dem nicht stattgegeben.

Geht das aus den Akten hervor?

In der Justizakte gibt es keine Unterlagen über eine Überprüfung. In der Krankenakte der Klinik aber, gibt es die Beantragungen zur Überprüfung.

Sie haben zwei konkrete Fälle recherchiert und geschildert, wo sich das MfS der Psychiatrie bedient hat. Haben sie Hinweise auf weitere Fälle? War die Psychatrie von der Stasi durchsetzt?

Das kann ich so nicht behaupten. Es gibt beweisbare Fälle, über die kann ich reden. Dann habe ich Informationen von einem Psychiater, daß Herr Dr. Seidel - er war im ZK der verantwortliche Arzt für das Gesundheitswesen - unter Medizinern den sogenannten „entwicklungswürdige Kaderstab“ herangezogen hat. Und ich kann mir vorstellen, daß es unter diesen Kadern solche gab, die direkt für das MfS gearbeitet haben.

Gab es noch andere Formen der Zusammenarbeit?

Ich hab konkrete und glaubwürdige Hinweise auf zwei ärztliche Direktoren aus Berlin, zwei Psychiater, die einen „Kooperationsvertrag“ mit der Staatssicherheit gehabt haben sollen. Ihnen sollen Menschen überwiesen worden sein, bei denen sie psychiatrische Auffälligkeiten diagnostizieren sollten. Einer dieser Direktoren soll eine Videokamera in seinem Sprechzimmer gehabt haben, die alle Gespräche mit Patienten aufgezeichnet hat.

Woher stammen diese Hinweise?

Von Leuten aus der unmittelbaren Umgebung dieser Ärzte. Beide Beschuldigte gibt es nicht mehr. Sie haben sich umgebracht.

Sie sagen, daß nicht nur die Stasi die Psychatrie mißbraucht hat.

Nein. Zum Beispiel gibt es den Fall Anna Klein (Name von der Redaktion geändert). Eine 80jährige Frau, die seit April 1986 in einem Berliner Feierabendheim lebte. Eines Abend im Juni 1986, als sie nicht einschlafen wollte, mehrmals geklingelt hat und wohl auch mit ihrem Krückstock gegen die Wand geschlagen hat, hat die betreuende Ärztin sie anscheinend als störend empfunden. Unter Umgehung des Einweisungsgesetztes hat sie Frau Klein nachts in die Psychiatrie einliefern lassen. Als Frau Kleins Kinder ihre Mutter am nächsten Tag besuchen wollten, war sie nicht mehr da.

Sie wurde psychatrisiert, um sie ruhigzustellen. Wohin wurde sie abgeschoben?

Ins Griesinger Krankenhaus hier in Berlin. Die Kinder fanden ihre Mutter - das geht aus ihrer Eingabe an den Staatsanwalt hervor - in der gereopsychiatrischen Station auf einem zugigen Flur, vierfach mit Lederriemen und Gürteln von Bademänteln an Armen und Beinen ans Bett gefesselt. Der ärztliche Leiter des Krankenhauses sagte, sein Personal hätte die Frau so vorgefunden, ohne Papiere und in diesem Zustand.

Wie kam Frau Klein wieder raus?

Die Kinder haben eine Eingabe an das Ministerium für Gesundheitswesen und das Honecker-Büro gemacht. Von dort wurden sie benachrichtigt, daß man den Fall überprüft hätte und man sich für die Fehleinweisung entschuldige.

Ein weiteres Beispiel von Amtsmißbrauch gibt es aus dem Kurheim Hohenelse bei Neuruppin. Hier lebte ein damals etwa 50jähriger geistig behinderter Mann mit einer Komplexschädigung. Er hatte eine kleine Wohnung und machte alle möglichen groben Arbeiten. Bis August 1989, 30 Jahre lang, ging alles gut. Dann kam eine neue Ärztin. Offenbar paßte ihr Karl Peters (Name von der Redaktion geändert) nicht ins Bild. Und wenn er seine Medikamente nicht regelmäßig nahm, wurde er manchmal etwas aggressiv. Als er sich mal aufgeregt hat, hat ihn die Ärztin von der Volkspolizei abholen und in die Psychatrie in Neuruppin einweisen lassen.

Wer hilft dann so jemandem?

Der arme Mann wußte überhaupt nicht was ihm geschah, weinte und war völlig unglücklich. Nur weil sich eine Fürsorgerin der gereopsychiatrischen Abteilung in Neuruppin sehr für ihn eingesetzt hat, konnte ihm geholfen werden. Sie hat dafür gesorgt, daß er in ein anderes Pflegeheim verlegt wurde, wo er auch arbeiten kann. Ich hab mit Herrn Peters gesprochen, es geht ihm wieder gut. Ob es Konsequenzen für die Ärztin gibt, weiß ich nicht.

Interview: Bascha Mika