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Russisches Roulette im sibirischen Tomsk

Die Sowjetunion sitzt auf einem atomaren Pulverfaß / Droht ein zweites Tschernobyl? /Die Bevölkerung schwankt zwischen Panik und Fatalismus / Ein ganzes Stadtviertel von Tomsk ist hermetisch abgesperrt / Eindrücke von einer bevorstehenden Katastrophe  ■  Von Alex Popko

Moskau (taz) - „Irina ist nicht nur an ihrer Krankheit gestorben, sondern vor allem an unserer Gleichgültigkeit“, erklärt der Moderator des 24stündigen Fernsehmarathons Tschernobyl, der die sowjetische Öffentlichkeit zum erstenmal umfassend über die bisher größte Reaktorkatastrophe informierte. Das Mädchen, eine der 1,5 Millionen strahlenverseuchten Menschen, erlag knapp vier Jahre nach dem Super-GAU den Spätfolgen der Strahlung. Sowjetweit breitete sich Betroffenheit während dieser Fernsehsendung aus. Doch für Betroffenheit ist keine Zeit. Nur wenige Tage später droht im sibirischen Tomsk, wie die 'Iswestija‘ am vergangenen Freitag berichtete, „ein zweites Tschernobyl“! Vor Ort wurde erhöhte Radioaktivität gemessen. Die ersten Menschen wurden bereits in Krankenhäuser eingeliefert. Ausmaß und Ursache der Strahlung sind zur Zeit noch nicht bekannt.

Ausgerechnet eine Wahrsagerin, die Bulgarin Vanga, hatte im November vergangenen Jahres eine Explosion des Atomreaktors Nr.5 in Tomsk prophezeit, zu der es allerdings bislang (noch) nicht gekommen ist. Um jedoch einen Unfall in einem sowjetischen AKW vorauszusagen, muß man keine Hellseherin sein. Sogar der ehemalige stellvertretende Direktor des Instituts für Atomenergie, Walerie Legassow, gab zu, ein zweites Tschernobyl sei in jedem Atomkraftwerk dieser Bauart möglich. Pünktlich zum zweiten Jahrestag des Super-GAUs in der Ukraine hat er sich das Leben genommen.

Unabhängig vom Grad und Umfang der momentanen radioaktiven Verseuchung steht eines fest: Die 500.000 EinwohnerInnen der Stadt Tomsk sitzen seit Jahren auf einem atomaren Pulverfaß. Hier befinden sich das älteste, 1951 in Betrieb genommene Atomkraftwerk der Sowjetunion. „Die Strahlungsmenge ist in unserer Stadt immer höher als erlaubt gewesen“, berichtet eine junge Studentin.

Im vergangenen Herbst kam es zu Protesten der Bevölkerung, die zuerst durch die Prophezeiung jener Wahrsagerin ausgelöst wurden. „Alle waren in Panik und schrieben Briefe an die Tomsker Zeitungen. Natürlich antworteten die Redaktionen, daß keine Gefahr von dem AKW ausginge. Die damalige Forderung, den Reaktor Nr. 5 abzuschalten, wurde von den verantwortlichen Behörden abgelehnt“, so eine Tomsker Bewohnerin.

Während in anderen Städten, wie Odessa, Minks und Archangelsk, die jeweiligen Bürgerkomitees und Ökologen erste Erfolge erreichen und Baustopps durchsetzen konnten, ist es in Tomsk der besondere Status der Stadt, der die Situation so schwierig und undurchsichtig macht.

Einerseits wird nach der behördlichen Maxime gehandelt, wenn ein AKW da ist, wird bleibt es auch ans Netz angeschlossen. Andererseits ist die Stadt normalerweise für AusländerInnen gesperrt. Niemand in der Bevölkerung hat jemals den Grund erfahren. Noch gravierender ist das Mysterium von Tomsk7. Dort leben rund 30.000 Menschen unter scheinbar normalen Verhältnissen. Die Behörden haben jedoch den Stadtteil zu einem hermetisch abgeriegelten Getto gemacht. Die BewohnerInnen dürfen zwar die Kontrollposten passieren, um in die anderen Stadtteile zu gelangen. Aber niemals hat ein/e BewohnerIn des restlichen Tomsk dieses verbotene Gebiet betreten können. Die Menschen von Tomsk7 fügen sich den behördlichen Entscheidungen und haben aufgehört, sich Gedanken zu machen, warum ihr Stadtteil für Fremde, FreundInnen und Verwandte verboten ist. Tomsk7 scheint jenseits von Glasnost zu liegen.

So gab es zwei Gründe für die Hilflosigkeit und Ohnmacht der Bevölkerung gegenüber der atomaren Gefahr. Es sind die Unwissenheit und die Beschwichtigungstaktik der verantwortlichen Behörden, die mit bestellten Gutachten versuchen, die Bevölkerung ruhig zu stellen.

Fatalistisch aber doch realistisch äußert sich eine junge Frau aus Tomsk: „Wenn der Atomreaktor Nr.5 explodieren sollte, dann wird die ganze Stadt sterben...einige sofort und die anderen mehrere Tage später.“

Ein Hinweis über einen Zusammenhang zwischen Tomsk7 und radioaktiver Gefahr war wenige Wochen vor der Enthüllung der 'Iswestija‘ bei einer Journalistenrunde in Tomsk zu hören. In einem Gespräch mit einem Fernsehredakteur war zu erfahren, daß nach seinen Informationen von Tomsk7 aus radioaktive Abwässer in den Fluß Tom gelangen, der die Stadt mit Trinkwasser versorgt. Der Zwischenruf eines Mitarbeiters des lokalen Fernsehsenders unterbrach kurz dieses Gespräch: „Denke an das KGB! Schweige über Tomsk7 und irgendwelche angebliche radioaktiven Gefahren.“ Für einen Teil der Bevölkerung ist der KGB bedrohlicher als die Furcht vor einem zweiten Tschernobyl.

Sergej Simonir, Deputierter in Tomsk und lokaler Redakteur des 'Junger Leninist‘ für ökologische Themen, wurde auf die Gleichgültigkeit und Tatenlosigkeit gegenüber der radioaktiven Gefahr angesprochen. Er setzte große Hoffnungen auf den neuen Stadtrat, der zu 25 Prozent aus grünen PolitikerInnen besteht. Diese Antwort gab Simonir wenige Tage vor dem radioaktiven Zwischenfall. Noch sind keine Todesopfer zu beklagen. Aber in Tomsk ist es eine Minute vor zwölf. Wer zu spät kommt, der verliert das Leben.

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