Gorbatschow unter Beschuß?

Wider die Behauptung, der Reformer werde vom Militär in die Enge getrieben  ■ G A S T K O M M E N T A R

Vergangene Woche sprach auch Georg Bush auf einer seiner Pressekonferenzen über einen offenbar zunehmenden Druck des sowjetischen Militärapparats auf den sowjetischen Präsidenten. Gerüchte hierüber kursieren in jüngster Zeit vermehrt. Aber es gibt keinerlei Anzeichen dafür, daß der in den letzten Jahren vollzogene Prozeß der Abnahme des Einflusses des Militärs auf irgendeine Weise umgekehrt. Der „Beweis“ eines solchen Wandels steht aus.

Nichts ist überraschend an einer Verhärtung sowjetischer Positionen bezüglich bestimmter Regelungen bei einer bevorstehenden Einigung über die Reduzierung strategischer Waffen. Vergleichbare „Rückschritte“ gab es bisher in allen Endphasen US-amerikanischer und sowjetischer Rüstungskontrollverhandlungen. Nichts ist zudem mysteriös an der Zurückhaltung der Sowjets, was das Tempo hin zu einem Vertrag über konventionelle Waffen anbelangt. Schließlich wurde die politische Landschaft Europas seit Beginn dieser Diskussion nachhaltig erschüttert.

Auch ist der Glaube, Gorbatschow würde Litauen oder irgendeinem anderen Teil der Sowjetunion erlauben, sich an einem Tag unabhängig zu erklären und am nächsten Tag gleich in die Unabhängigkeit entlassen zu werden, mehr als naiv. Kann denn irgendjemand ernsthaft glauben, daß Gorbatschow erst zu einer harten Gangart gegenüber Litauen und Lettland gezwungen werden mußte?

Seine Haltung gegen ein vereintes Deutschland innerhalb der Nato macht ebenso Sinn, was die politischen wie militärischen Standpunkte der Sowjetunion anbelangt. Und wenn es bisher Veränderungen in der sowjetischen Position bezüglich Deutschlands gab, dann bedeuteten sie Abmilderungen, die Suche nach einem Kompromiß. Auch dies ist kein Beispiel für den Beweis eines militärischen Einflusses.

Um es deutlich zu sagen: wir haben uns zu sehr an ein willfähriges, nachgiebiges Gorbatschow-Regime gewöhnt. Wenn wir daher mit einer sowjetischen Politik konfrontiert werden, die uns nicht paßt, dann vermuten wir sofort „dunkle Mächte“ im Hintergrund. Wir machen uns damit zum Narren. Gorbatschow verfolgt eine Politik, die im besten Interesse seines Landes und seines Platzes in der Geschichte ist - nicht unseres.

Stephen Meyer

S. Meyer ist Professor für Politikwissenschaften am Massachusetts Institute for Technology (USA); der Text erschien zuerst in der 'New York Times‘