: Who's that boy?
■ Don Carlos, nicht von Schiller. Eine Uraufführung an den Münchener Kammerspielen
Elke Schmitter
Trotz aller Schwierigkeiten, die man mit den deutschen Dichterhelden haben kann: Don Carlos war immer anders. Revolutionsheld und Liebhaber, Königssohn und Aufklärer, Verschwörer wider Willen und verliebt wider sein Schicksal, Opfer und Held, Freund und Anwalt der Entrechteten. Ein großer Romantiker, besessener Träumer, Sprichwörterschmied der unbedingten Ergebung: „Ein Augenblick, gelebt im Paradiese, ist nicht zu teuer mit dem Tod gebüßt.“
So will es der Schillersche Text, von dem wir immer schon wußten, daß es so nicht gewesen sein kann, und nun haben wir auch das Stück zu dieser Gewißheit. Tankred Dorst schrieb den Karlos.
Don Carlos, sagt uns der Große Brockhaus, wurde 1560 (fünfzehnjährig) als spanischer Thronfolger anerkannt, auf dem Höhepunt der Macht des katholischen Weltreiches. „Körperlich zurückgeblieben, trotz einseitiger Begabung geistig minderwertig“ (Auflage von 1953) „und völlig hemmungslos, zeigte er die Merkmale erblicher Belastung und Degeneration durch enge Verwandtenehen: sein Vater wie seine Mutter waren Enkel Johannas der Wahnsinnigen. Philipp II., ohne gefühllos zu sein, verfehlte doch die rechte Erziehung und entschloß sich, den Erbprinzen von der Thronfolge auszuschließen. Als Don C. Vorbereitungen zur Flucht nach den Niederlanden betrieb, deren militärischen Oberbefehl ihm der König verweigert hatte, ließ ihn der Vater am 18. Januar 1568 im Schloß zu Madrid gefangensetzen.“ Don Carlos starb, noch in Haft, ein halbes Jahr darauf.
Tankred Dorsts Karlos ist bucklig, sadistisch, paranoid. Scharfsinnig und mißtrauisch in der Beobachtung seiner Umgebung, triebhaft in seinen bisexuellen Gelüsten, grausam und wahllos in seinen Bestrafungen, unberechenbar und abstoßend für seine Gegenüber. Er wird dem Staatsrat vorgeführt - einer Reihe von greisenhaften Fratzen und Schranzen, verwachsen, kauzig und schrullig, ein Aufmarsch des Schreckens, wie von Helnwein oder Grützke gemalt. Nur sein Vater, Philipp II., ist, obwohl schon ein klein wenig morsch, groß und gerade gewachsen, trägt eine Eisenschulter und den Herrscherkopf darüber stolz gereckt. Der Infant ist ekelhaft ehrlich und macht kurzen Prozeß mit der gichtigen Versammlung von Staatsraison. Warum denn ein Hund bei ihnen säße, auf dem politischen Parkett? Dies sei kein Hund, wird ihm erklärt, sondern der Adoptivsohn des Grafen von Altea. Der wollte, weil er blind war, nicht ohne seinen Hund gehen, und so habe er ihn adoptiert, denn sein Adoptivsohn könne an den Sitzungen teilnehmen, was dem Hund untersagt sei. Graf Altea ist längst tot, der Hund aber noch dabei, und Karlos bedient sich derselben absurden Logik, indem er seine Verbeugung vor ihm macht: „Ich begrüße Sie, Nicht-Hund!“ Vielleicht ist er bucklig, weil er in den Kinderjahren gehalten wurde wie ein Hund, denn was ist ein Buckel anderes als der Versuch des menschlichen Körpers, auf allen Vieren zu gehen?
„Ich erzähle dir, wie es vor deinem Erscheinen in der Welt zugegangen ist, Hund“, sagt der Prinz, bizarr vertraulich: „Ich kroch auf allen Vieren auf dem Fußboden herum wie ein Hund, und ich habe meiner Amme in die Brüste gebissen wie ein bissiger Hund: Der Infant Karlos ist bissig. Dann hielt man mich verborgen und hat mich eingesperrt wie einen räudigen Hund, niemand sollte mich sehen, und ich sollte auch niemanden sehen. So sind meine Jahre vergangen, bis du zur Welt kamst, Hund.“
Die Koordinaten des neuen Carlos-Stückes beruhen auf der Entlarvung einer absurden gesellschaftlichen Logik einerseits (diktiert von den Interessen einer Weltmacht, durchgeführt und metaphysisch gerechtfertigt von der Gegenreformation) und ihren Auswirkungen auf das Individuum andererseits. Dorst kehrt das Verfahren Schillers um. Der hatte noch, um den Schrecken in den Griffel zu bekommen, aus dem Hofstaat Menschen gemacht und die Ebene der Beziehungen als die einzig mögliche beschrieben, um Wahrheit und Unwahrheit voneinander zu scheiden: Carlos liebt seine Stiefmutter Elisabeth, Marquis von Posa seinen Freund und die Freiheit, Herzog von Alba intrigiert gegen beide, Philipp II. rächt sich grausam. Die Protagonisten sind umgeben von einem Hofstaat, der nicht Charaktermasken, sondern Schicksale versammelt, Persönlichkeiten, die durch ihre Handlungen vergessen lassen, wie beschränkt ihr Spielraum wirklich war. Mit Schiller sind wir mit der Geschichte auf du und du, und wenn seine Sprache nicht die unsere an Schönheit und Gedankenreichtum aufs Deutlichste überträfe, wir würden den Prinzen in Bonn vermuten.
Dorst geht den umgekehrten Weg. Er wird niemals ganz vertraulich. Er zeigt: die spanische Gesellschaft war grausam, wahnhaft und unerbittlich, der Katholizismus keine sinnstiftende Gebärde, sondern schwarz gekleidete tödliche Macht. Die Inquisition war an der Tagesordnung, die Ordnung selbst war organisiertes Verbrechen. Sein Hofstaat besteht nicht aus Individuen, mit denen wir fühlen können, sondern aus Außenposten einer Staatsmacht, die einen kollektiven Wahn verteidigte. Das Ich als Werkzeug des Staates, die Gesellschaft erstickt in einer klerikalen Umklammerung, der ganze Hof erstarrt in der Präsentation seiner selbst. Karlos‘ Geisteskrankheit ist nichts als das Substrat dieser unmenschichen Logiken, das eigensinnige, zufällige und nicht mehr steuerbare Auftreten derselben Elemente in neuer Zusammensetzung. Er ist so grausam wie alle, die ihn umgeben, aber er verzichtet auf die ritualisierte Rechtfertigung derselben Willkür. Er ist so triebhaft und ambivalent wie alle, aber die Techniken der Disziplinierung haben bei ihm versagt. Er kalkuliert so scharf und machtversessen wie alle, aber sein Denken vollzieht sich in Sprüngen, an den syllogistischen Bahnen der anderen vorbei.
Das Denken dieser Zeit bestand auf dem Syllogismus, jener logischen Form, die in der Entfaltung einer Behauptung besteht und sich darin bewußt erschöpft: Die Macht des Gottesstaates ist unendlich. Die Kirche ist der Gottesstaat auf Erden. Die Macht der Kirche ist unendlich. Mit dieser Logik ist Staat zu machen, sie ist der zur Sprache gebrachte Gleichschrittt, unmittelbar einsichtig, unerbittlich tautologisch. Sie ist das zur regulären Abstraktion gebrachte Mißverständnis ihrer Opfer, das blanke Rüstzeug ihrer Täter. Wenn der Großinquisitor sich kopfschüttelnd darüber beklagt, daß nur ganze drei von 2.000 Verbrannten ihre Bekehrung noch aus den Flammen schreien, dann wundert er sich auch darüber, daß 1.997 seiner Logik nicht folgen. Dabei ist sie so einfach.
Dorsts Stück ist eine kalte Farce, wechselnd zwischen Schrecken und Slapstick. Als die kleine Ysabel aus Frankreich kommt, die künftige Gemahlin des großen Philipp, ist sie ein helles, altkluges Kind, eine Lichtgestalt in düsterer Gesellschaft. Als der Hofrat sie langsam umkreist, die alten Männer einen Plastikhandschuh über die Rechte ziehen und die schreiende Weiblichkeit unter sich begraben, um mit hartem Griff die Jungfräulichkeit zu überprüfen, ist der absolute Schrecken erreicht. Als Don Karlos mit dem holländischen Gesandten verhandelt, einer komischen, ratternden Aufklärungsmaschine, reicht der ihm zur Besiegelung männlich die Hand, und Karlos beißt ihm einen Finger ab. Als dieser Finger zwischen den beiden zu Boden fällt und Karlos eine höfische Gebärde macht, die einem „Nach Ihnen“ gleichkommt, ist das der pure Slapstick. Zwischen all dem hängt der Wilde im Käfig, eingefangen von den kultiviertesten Herren des Abendlandes zu Unterhaltung und Belehrung. Er hockt in einem Kasten aus Glas und wird bei Bedarf emporgefahren, den Blicken des Staatsrats und unseren gleichermaßen ausgeliefert, dem Mitleid ebenso preisgegeben wie dem leisen Ekel und jener panischen Angst, die in Zerstörungswut umschlägt: „Er könnte großen Schaden anrichten“, warnt ein Greis des Staatsrates, „er könnte Kindern den Kopf abreißen und Feuerbrand in die Kathedrale werfen.“ „Ja“, sagt darauf Karlos, Caligula im Prinzenwams, und rollt erwartungsfroh die Augen. „Ja. Ja. Ja.“
Trotz Slapstick und trotz Farce: die Kammerspiele haben sich für die Kunst entschieden. Jürgen Rose hat ein Bühnenbild gebaut, das so glatt und dunkel ist wie die Staatsmacht selbst, große, schwere Elemente, die ein dumpf dröhnendes Geräusch entlassen, wenn ein menschlicher Körper dagegen schlägt, und die langsam um sich selber kreisen. Die Farben der Inquisition, rot und schwarz, beherrschen die Bühne und die Kostüme, nur Ysabel darf in weiß beginnen, und der Infant trägt Söckchen von einem kranken Gelb. Die Bilder sind ästhetisch, kontrolliert, unabweisbar perfekt. Sie lassen den Schrecken zu, aber sie vereisen ihn. Die Bühne nimmt das Leben, das den Menschen ausgetrieben wurde, nicht mehr auf.
Regie und Bühnenbildner sind sich einig in dieser Entscheidung. Man könnte dieses Stück eklig interpretieren, grausig, schrill, eine grelle Nummernrevue, bei der man sich Auge, Nase und Ohr zuhält. Dorn hat das Gegenteil getan, die bewußte, stilisierte Präsentation, die man Kunstgewerbe nennen kann. Wer den Schrecken so schön macht, vernichtet der ihn auch? Ich glaube nicht. Es gibt auch den sublimen ästhetischen Schock, von dem man das Auge nicht wenden kann, der unmittelbare Abwehr verhindert und unaufhaltsam ins Bewußtsein sickert, mit lange wirksamen Folgen.
Das Ensemble ist durchweg großartig, eine Meisterleistung Ulrich Matthes‘ Darstellung des erbarmungswürdigen Karlos, der schließlich an einer Hasenpastete stirbt: „Das ist“, sagt Schillers von Posa, „der löwenkühne Jüngling nicht, zu dem / ein unterdrücktes Heldenvolk mich sendet.“
Tankred Dorst: Karlos (Mitarbeit: Ursula Ehler). Münchener Kammerspiele. Regie: Dieter Dorn. Bühne, Kostüme: Jürgen Rose. Die nächsten Aufführungstermine: 25. und 26. Mai.
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