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Spötteln und Plündern: Blauer Montag in Mahagonny

■ Opernpremiere im Schauspielhaus: Fünf Einakter aus den Zwanzigern, ganz aufgeweckt / „Wie nah sind uns manche Toten“

Kalkweiß, mit grämlich-grauen Mienen, erstarrt zu großer Geste ausholend, so sitzt es da, das Klavierquartett (ohne Cello allerdings), welches Elmar Gehlen, Regisseur und Bühnenbildner der jüngsten Musiktheaterproduktion, auf die Bühne des Schaupielhauses stellt. Es ist aus Gips und sitzt im großen Kasten, vor der Außenwelt geschützt, staubfrei, mit Zellophan verhangen. Bitte nicht berühren!

Anthony Beaumont, musikalischer Leiter des Abends, verirrt sich in den Kasten. Da will er allerdings nicht bleiben. In der Not weist ihm ein Lichtstrahl sein Pult. Es steht „draußen“.

Das Personal des ersten Einakters von Ernst Toch beschädigt die Isolierung des „Kunstkastens“. Darius Milhauds „opera minute“ braucht Platz für ihre große Be

setzung: da müssen die Streicher weg. Gershwins „Blue Monday“ kommt nicht ohne Klavier aus. Diesem Bedürfnis fällt der Gips pianist zum Opfer. Bei Hindemiths „musikalischem Sketch“ namens „Hin und zurück“ wird der entleerte Kasten mit Kulissen vollgestellt, sein Rahmen bleibt indessen erhalten, er wird noch gebraucht für Weill/Brechts „Mahagonny Songspiel“. Dort wirkt er, aber nicht als Grenze. Hinten in der eingespiegelten Seitenbühne sitzt das Gipsquartett und staunt darüber, was man in und um seinen „Raum“ alles machen kann. Mit so einfachen, aber wirkungsvollen Mitteln baut Gehlen seine Bühne auf, und so kommentiert er die fünf Einakter und ihre Stellung zu dem, was hier gespielt wird: zur Oper.

Tochs „Egon und Emilie“, ein

Kurzdrama vom verhinderten Musikdrama, karikiert die Opernform und spielt mit der Erwartung des Publikums. Dabei gelingt ihm das Kunststück, die sinnentleerten Koloratur -Bravourstückchen der „Großen Oper“ und gleichzeitig deren Radikalreformer Schönberg zu veralbern. Milhaud gibt in der „Entführung der Europa“ eine Kurzfassung des Mythos von der Entstehung des Abendlandes und lacht boshaft über den Versuch der französischen Impressionisten, sich das Musiktheater anzueignen. Gershwin bricht polterig und mit zweifelhaftem Geschmack in die Oper ein und plündert effekt -, aber auch durchaus respektvoll europäisches Kulturgut. Der junge Hindemith werkelt mit artifiziellem Geschick und beißendem Humor an der Operform herum und

führt die „Große Opernszene“ ad absurdum: Sie läuft vor-und rückwärts gleichermaßen gut.

Anders Kurt Weill: Für Brechts Text von den enttäuschten schlichten Träumen von Geld, Rausch und Sex benutzt er traditionelle Formen des Musiktheaters, packt Klänge Rhythmen, Melodien hinein, die in den Kneipen, Kabaretts und Revuetheatern der Großstädte zuhause sind. Und erobert das Musiktheater für aggressive, auf den Nerv der Gesellschaft zielende Gegenwartskunst.

Gehlen trifft mit seiner Inszenierung genau den Kern der Einakter. Der äußere Rahmen schleift nichts ab, jedes Stück erhält seinen unverwechselbaren Stil. Dem Regisseur stand ein ausgesprochen spiel- und wandlungsfreudiges Ensemble zu Verfügung, das zu sehen, gerade weil es die übliche Neigung zum Überdrehen im Zaume hielt, eine Freude, und das zu hören ein Genuß war. Nur eine fiel aus der Rolle. Catherine Rückwardt garniert ihren Soloklavierpart in „Blue Monday“ mit einer bizarren Detailstudie vom verkifften schwarzen Pianoplayer im rauchgeschwängerten Jazzkeller.

Die Fülle musikalischer Stile wird von Tony Beaumontund dem bremischen Philharmonischen Orchester bezwingend eingefangen. Ausgeprägte, harte Motorik bei Hindemith; swingend, aber klar in der musikalischen Artikulation kam Gershwin über die Rampe; delikat, nur manchmal kaum hörbar erklang Milhauds aufregender Orchestersatz; und zum großen klangsinnlichen Ereignis wurde Weills großes

Opernfinale. Man sollte die Aufführung nicht versäumen. Hört man sie im Umfeld aktueller Produktionen, bestätigt sich doch die kleine Weisheit des Sprüchekloppers Biermann: Wie nah sind uns manche Toten, und wie tot sind uns manche, die leben. Mario Nitsch

Anm. d. Red.: Obiger Artikel hat sich ein wenig verspätet. Unser Endesunterzeichneter ist mittendrin Vater eines gesunden Siebenpfünders geworden. Wir gratulieren allen Beteiligten zueinander.

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