IM LAND DES LÄCHELNS

■ Marianne Faithfull versprühte Lebensfreude im Tempodrom

Prolog: Außer dem Ozonloch und dem Treibhauseffekt droht eine weitere beängstigende Entwicklung, diesen unseren Planeten langfristig den Garaus zu machen: der galoppierende Verlust des Rhythmusgefühls der Menschen. In freier Wildbahn zu beobachten ist dieses grausame Syndrom zur Zeit am augenfälligsten bei Rock- und Folkkonzerten. Es tritt vorwiegend in Form von lautem, heftigem Mitklatschen auf, das stets hart neben dem von den Musikern vorgegebenen Takt angesiedelt ist. Mit den ersten katastrophalen Konsequenzen dieses Phänomens ist bald zu rechnen. Künstlerinnen und Künstler der besinnlicheren Sorte werden jeglichen weiteren Auftritt verweigern, nur der Hardrock wird noch eine Chance haben, zumindest solange, bis die ersten Klatschverstärker auf den Markt kommen.

Nekrolog: „Du weißt es, und ich weiß es: Am Morgen werde ich tot sein“, singt Marianne Faithfull und ihre eisige Stimme breitet ein imaginäres Leichentuch über das Auditorium im Tempodrom. Ihr Song „Sister Morphine“ war schon in der eher fidelen Version Mick Jaggers ziemlich beklemmend, singt sie ihn aber selbst, läßt die Intensität ihrer Interpretation vollends das Mark gefrieren.

Doch der Eindruck täuscht. Die „Queen of Death“, die einstige Schneekönigin des Rock, hat sich gewandelt. Seit vier Jahren frei von Drogen und Alkohol, ist sie heute, wie sie selbst sagt, mehr „im Frieden“ mit sich. Mit einem breiten Lächeln, wie es Luciano Pavarotti kaum besser hinkriegen würde, erklimmt sie die Bühne und nimmt die Huldigungen ihrer Fans mit der Noblesse und Grandezza einer berühmten Operndiva entgegen. Dabei versprüht sie eine Fröhlichkeit, wie sie die melancholischen, tragik-umwehten Songs, aus denen ihr Repertoire besteht, kaum vermuten lassen.

Bevor sie anhebt zu singen, schließt sie kurz die Augen, als koste sie es einige Mühe, die heitere Gelassenheit eine Weile abzulegen, doch kaum hat sie die erste Note intoniert, steckt sie mit Leib und Seele mitten im jeweiligen Song. Im schwarzen Kostüm, die ehemals struppige Frisur zu einem adretten Haarschnitt mutiert, die rechte Hand auf dem Oberschenkel ruhend, mit der linken sparsam gestikulierend, klagt sie „Falling from grace, falling from grace“, und ihre Stimme klingt wie ein gregorianischer Choral - wirkungsvoll untermalt nur von ihrer „Band“, dem unprätentiösen, feinfühligen akustischen Gitarristen Barry Reynolds, und vom tempodrom-typischen Bersten der Plastikbierbecher.

Das kritische Alter ihrer Balladenheldin Lucy Jordan, der mit 37 die Öde ihres Lebens bewußt wird, hat Marianne Faithfull seit fünf Jahren hinter sich, und die jüngeren Kompositionen entsprechen ihrem neuen, optimistischeren Lebensgefühl. Im Zentrum des Programms stehen dennoch nach wie vor die bösen, aggressiven Stücke ihrer „Broken English“ -Zeit: John Lennons „Working Class Hero“, „Lucy Jordan“, „Guilt“, „Why d'ya do it“, bei denen ihre Augen einen harten Glanz annehmen, ihr Mund einen brutalen Zug bekommt, sich das bewegte Leben der Marianne Faithfull, die vor 25 Jahren mit „As tears go by“ die Musikszene betrat, plötzlich in ihrem Gesicht widerspiegelt.

Aber kaum ist der letzte Ton verhallt, kommt sofort wieder das glückliche Pavarotti-Strahlen zum Vorschein, das die gerade gezeigte Bitterkeit entschlossen, doch ohne Reue in die Vergangenheit verweist. Sister Morphine ist im Land des Lächelns angekommen.

Epitaph: Als sie vor rund zehn Jahren „Broken English“ produzierte, sagte Marianne Faithfull in einem Interview mit Radio 100, glaubte sie fest, daß sie danach sterben würde. „Aber ich starb nicht, und das war gut so.“ Eine Sicht der Dinge, die die Besucherinnen und Besucher des Konzerts im Tempodrom vermutlich uneingeschränkt teilen. Ihnen wäre sonst ein großartiges Konzert entgangen.

Matti Lieske