: Adieu BRD!
■ Ein Nachruf aus aktuellem Anlaß
Reinhard Mohr
„Beim Umzug 88 dann kamen die etwas angestrengte Bühnenschaffende Klier und andere in Haft, weil sie eine Fußnote aus Rosas Schriften zum Bannerspruch erhoben.“
Hermann Kant in 'Konkret‘ 6/90 über die „Freiheit, die immer die Freiheit des Andersdenken ist“.
Alle reden vom „Ausverkauf“ der DDR, von „Anschluß“, „Einverleibung“, von ihrem bitteren Ende oder der lange ersehnten „Wiedervereinigung“ mit dem Westen Deutschlands, vom längst fälligen Zusammenbruch des „Sozialismus“ oder dem Scheitern einer großen, leider deformierten Idee. Alle Sorgen, Ängste und Hoffnungen konzentrieren sich auf die DDR, die nach Inkrafttreten des Staatsvertrages am 1.Juli den größten Teil ihrer sowieso schon geringen Restsouveränität verloren haben wird.
Niemand jedoch spricht vom Ende der Bundesrepublik, die nach gut vierzig Jahren, in denen das Bonner Provisorium eine komplexe gesellschaftliche Wirklichkeit und eine poltiische Geschichte hervorgebracht hat, bald in einem neuen deutschen Bundesstaat aufgehen wird. Nur unverbesserliche Rechte und orthodoxe Linke glauben, daß sich dabei nichts Wesentliches ändern wird. Für die einen war immer schon gut und richtig, was für die anderen stets und jetzt erst recht - die schlechte, bekämpfenswerte Realität verkörperte. Während die Konservativen in vollem Bewußtsein ihres vermeintlichen ideologischen Sieges - allen voran Bundeskanzler Kohl - Tag für Tag neue Fakten schaffen, trauern große Teile der bundesdeutschen Linken der Vergangenheit nach, ohne die politischen Chancen zu sehen, die sich aus der neuen Lage ergeben. Die freilich ist ambivalent: „Es schwankt nicht nur der Boden der Tatsachen. Auch der fliegende Teppich der Utopie wird denen, die sich häuslich auf ihm eingerichtet haben, unter den Füßen weggezogen. Die Erhaltung des 'Status quo‘ ist ebenso aussichtslos geworden wie die Verheißung eines 'Status in spe‘.“ Daß Hans Magnus Enzensbergers Erkenntnis bei vielen auf wütende Ablehnung stoßen wird, liegt zu einem nicht geringen Teil an dem ungeklärten Verhältnis der Linken zur Bundesrepublik.
Ohne den Versuch einer neuen, auch selbstkritischen Retrospektive auf 40 Jahre Bundesrepublik werden sich die notorischen, häufig zu Phrasen und Klischees verkommenen Ängste und Hoffnungen, Verdammnisse und Utopien auch weiterhin im selbstversorgenden Recyclingsystem linker Dichtung und rechter Wahrheit (vice versa) die Waage halten und gegenseitig stützen, ohne Einfluß auf den Gang der Dinge zu gewinnen. „Nie wieder Deutschland!“ forderten jüngst fünfzehntausend vorwiegend deutsche DemonstrantInnen in Frankfurt am Main, jener Finanzmetropole der Bundesrepublik, die, von Konrad Adenauer als Bundeshauptstadt verschmäht, zu den undeutschesten Städten zwischen Rhein und Elbe gehört. Mit ihren Banken und Bürotürmen, ihrem unaufhörlich expandierenden Dienstleistungssektor, dem ebenso dynamischen Wachstum der Bistro-Kultur wie den unbewältigten Müllbergen ist sie der exemplarische Beweis für die Behauptung Wolf Biermanns, die DDR-Deutschen seien „nicht so russisch geworden wie die Westdeutschen amerikanisch“.
Kein Frankfurter Intellektueller würde die Bundesrepublik seine „Heimat“ nennen, „weil sie das Stück Deutschland ist, in dem man Ideen zu verwirklichen trachtet, die mir, seit ich ihnen als Kind begegnete, die edelsten, die menschlichsten zu sein scheinen“, wie der Schriftsteller und Kommunist Stephan Hermlin noch vor wenigen Jahren sein Verhältnis zur DDR beschrieb. Auch vom westdeutschen „Mann auf der Straße“ zwischen BfG-Hochhaus und Deutscher Bank drohen weniger Euporie und nationaler Überschwang als Ressentiments und marktwirtschaftlich geschultes Mißtrauen gegenüber den „Brüdern und Schwestern“, die ihren Laden „erstmal auf Vordermann bringen sollen, bevor sie überall die Hand aufhalten“.
„Nie wieder Deutschland!“ - die zentrale Parole der Demonstration, zu der sich neben vielen, die dem deutschen Einheitszug aus verschiedensten Gründen ein Stoppsignal setzen wollten, die sektiererische Linke - von MLPD bis DKP
-komplett versammelt hatte, ist die Metapher für den kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich die „radikale Linke“ in der Bundesrepublik Deutschland ein halbes Jahr nach dem Fall der Mauer einigen kann. Er heißt: Flucht in die Trutzburg. Die Beschwörung eines großdeutschen „Vierten“ Reiches fixiert Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf ein Bild des Schreckens, gegen dessen Anblick der Ruf „Nie wieder Deutschland“ zugleich als praktisches Rezept verschrieben wird - die perfekte Abschaffung der Realität.
„Diese Art, Vergangenheit zu 'bewältigen‘, nimmt die zeremoniellen Formen einer Teufels-Austreibung an. Ihr sonderbares Motto heißt: Qui s'accuse, s'excuse.“ Was Hans Magnus Enzensberger 1964, als er über „Die Schwierigkeit, ein Inländer zu sein“, nachdachte, noch nicht wissen konnte, ist heute Wirklichkeit. Die „Nabelschau, die sich auf den sogenannten Volkscharakter richtet“ und die „Eigenschaft, 'deutsch‘ von neuem zur metaphysischen Größe verklärt“, die endemische (Selbst-)Anklage der deutschen Linken, drückt nicht mehr nur das traditionell gute Gewissen des Antifaschismus aus, sondern auch die Angst vor dem Ende der „rassistisch-imperialistischen“ Bundesrepublik. Denn in den verbalen Attacken gegen die „Annexion der DDR“, gegen „Anschluß“, „Einverleibung“ und „Untergang“ des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden steckt die Angst vor dem eigenen Untergang. Selbst noch in der hartnäckigen Weigerung, die realen Verhältnisse in der DDR und ganz Osteuropa zur Kenntis zu nehmen, äußert sich eine dumpfe Ahnung, daß mehr zusammengestürzt ist als die Greisenversammlung aller Politbüros von Bukarest bis Ost -Berlin. Damit die Welt dennoch in Ordnung bleibt, versucht die „radikale Linke“, sich selbst und der Bundesrepublik treu zu bleiben.
„Deutsche Polizisten sind Mörder und Faschisten“, skandieren immer wieder DemonstrantInnen in Frankfurt als Antwort auf die üblichen Provokationen der Ordnungskräfte gegen den „schwarzen Block“. Die Beiläufigkeit, mit der dieser kanonische Vers im Chor angestimmt wurde, klang wie der Ruf nach der verlorenen linksradikalen Normalität im Schweinestaat des BRD-Imperialismus. Auf ihn konnte man sich verlassen. Von Chile bis Südafrika war die BRD tatsächlich „bei jeder Schweinerei dabei“. Und heute noch helfen bundesdeutsche Unternehmen beim Bau von Giftgasfabriken, Raketen und Atombomben in aller Welt. Sogar die alte Wut gegen die Sozialdemokratie wurde dieser Tage wieder belebt, als Ex-Bundeskanzler Schmidt in den himmlischen Frieden nach Peking reiste, um den Massenmörder Deng als „herausragende Persönlichkeit“ zu loben.
Aber die „radikale Linke“ braucht geordnete - das heißt: ordnende - Schweinereien. Von der ungeheuerlichen Repression in der DDR und den anderen „sozialistischen Staaten“ wollte und will sie so wenig wissen wie von der ökonomischen Katastrophe der Planwirtschaft, der massenhaften Zerstörung von Lebensglück, den Ermordeten und der Folter im Stasi -Keller, dem ökologischen Desaster oder dem schwunghaften Waffenhandel der DDR mit devisenstarken Völkermördern in der „Dritten Welt“. Die „RGW-Staaten“ waren - wenn nicht das Bollwerk gegen die Hegemonie des Imperialismus - Hinterland und Rückraum des antiimperialistischen Kampfes, der bundesweit geführt wurde.
Die „BRD“ dagegen war das Basislager und der Brückenkopf des Kampfes für die sozialistische Weltrevolution: das vertraute Herz der Bestie.
So hält die „radikale Linke“ der Bundesrepublik von Adenauer und Erhard die Treue, weil sie die verläßliche Anti -Utopie des revolutionären Bekenntnisses, der vollkommene Nicht-Ort der kommunistischen Utopie war: „Nie wieder Deutschland“. Noch die kleinste Anti-Repressionsgruppe im Stadtteil konnte sich in den internationalen Zusammenhang der Neustrukturierung des kapitalistischen Weltmarkts einordnen und dabei gegenüber jedem den Nachweis erbringen, daß die „BRD“ darin eine führende Rolle einnehme. Der bundesdeutsche Imperialismus war im Ländervergleich - neben dem unschlagbaren US-Imperialismus - stets der schlimmste, weil er politisch in den Stiefeln des verdrängten Faschismus und ökonomisch auf leisen Sohlen daherkam, besonders perfide, weil er im Gegensatz zu den alten europäischen Kolonialmächten - England, Spanien und Portugal - die Unschuld vom Rhein spielen konnte.
Die bundesrepublikanische Linke insgesamt bezog lange Jahre ihre Bedeutung und Selbstachtung aus der Stärke ihres in aller Welt geachteten und gefürchteten Antipoden, des deutschen Kapitals. Nicht wenige empfingen dankbar die ambivalente Bewunderung französischer und italienischer Revolutionäre, Anarchisten und Kommunisten, die in den siebziger Jahren die Hegemonie des „Modells Deutschland“ prophezeiten und von den deutschen Genossen eines Besseren belehrt wurden: der Kampf dagegen würde weitergehen und sich ständig verschärfen. Darin lagen seine Logik und seine Perspektive.
Diese Perspektive, die trotz der desillusionierten postmodernen achtziger Jahre im „radikalen“ Teil der Linken überlebt hat, ist mit dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ obsolet geworden. Nchdem die Völker Mittel- und Osteuropas die „Systemfrage“ des zwanzigsten Jahrhundert eindeutig beantwortet haben, befindet sich die „radikale Linke“ in der Situation der „Autonomen“ in Berlin-Kreuzberg: Zuvor die Mauer im Rücken, weht nun der kalte Wind der Geschichte durch sie hindurch, aus einer gänzlich unerwarteten (und ungeliebten) Richtung. Daß der Einbruch des realsozialistischen Elends den Kapitalismus als „übriggebliebene“, gar triumphierende Realität erscheinen läßt, vervollständigt die Verwirrung.
Nur mit heftiger Abwehr der neuen Realitäten kann ein Stück der imaginären Idylle vergangener Zeiten erhalten werden, in der die linksradikale Identität noch spiegelbildlich zur Normalität des „BRD-Imperialismus“, seiner autoritären und repressiven Tendenzen zu passen schien.
Im Oktober 1967 führte Enzensberger als Herausgeber des 'Kursbuchs‘ ein Gespräch mit den damaligen SDS-Größen Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler über „die Zukunft“. Darin entwarfen die drei auch eine „konkrete Utopie“ für Berlin: „Wenn es die Computer nicht gäbe, müßten sie förmlich erfunden werden für die Räteverfassung“, sagte Christian Semler. „Die Landwirtschaft können wir ganz abschaffen“, meinte Rudi Dutschke. Statt dessen solle man „Lebenszentren für die freie Zeit“ aufbauen. Bernd Rabehl ergänzte: „Wenn es je gelingen sollte, die Arbeitszeiten so weit zu reduzieren, dann wird natürlich auch ein jeder zum Politiker. Es ist tendenziell auch ein jeder Künstler.“ Christian Semler setzte noch eins drauf: „Ich glaube, bestimmte Spezialistenfunktionen muß man einfach abschaffen. Zum Beispiel darf es nie mehr Richter geben, es darf nie mehr einen Justizapparat geben, und das ist meiner Ansicht nach durch Technologie erreichbar.“
Rudi Dutschke träumte von „Räteschulen“, die einen „Lernprozeß durch die verschiedenen Produktionssphären hindurch in Gang setzen. Das heißt, ganz Berlin wäre eine Universität, wir hätten eine lernende Gesellschaft.“
Der Text erschien im August 1968 - drei Monate nach dem Attentat auf Dutschke, an dessen Spätfolgen er knapp zwölf Jahre später starb. Im Sommer 1968 hatte die deutsche Wirklichkeit die „konkrete Utopie“ schon eingeholt und zugleich radikalisiert. Der naive Gestus des Gesprächs über die Zukunft war längst abgelöst durch die permanente Revolte: die Revolution schien vor der Tür zu stehen. Selbst der damals fast vierzigjährige Enzensberger wollte nicht zu spät kommen, um womöglich dafür vom Leben bestraft zu werden: „Nicht daß konkrete Utopie der politischen Praxis davonläuft und sich 'ideell über die erhebt‘, ist heute die Gefahr der antiautoritären Bewegung, sondern daß sie hinter ihr herhinkt.“ Die Zeit drängte.
Die Bundesrepublik war der Nachfolgestaat des Hitler'schen Reiches. Der amtierende Bundespräsident Lübke, dessen surrealistisch-dumpfe Trotteligkeit auf Langspielplatten erfolgreich vermarktet wurde, hatte Baupläne für Konzentrationslager entworfen. Bundeskanzler Kiesinger war NSDAP-Mitglied und „Verbindungsmann“ des NS -Außenministeriums zum Propagandaministerium des Joseph Goebbels gewesen. Unzählige Richter, Verwaltungsbeamte und Wirtschaftsmanager - unter ihnen der später von der RAF ermordete Hanns-Martin Schleyer, der Mitglied der SS war repräsentierten eine fatale personelle Kontinuität der nationalsozialistischen Vergangenheit, die nach 1945 von der neuen politischen Führungsschicht als „Zwischenspiel“ behandelt wurde, das dem kollektiven Vergessen anheimfallen sollte. „Aber es war zugleich auch ein Ausdruck ihres Herrschaftsanspruchs und ihres Machtwillens, daß sie einen Schlußstrich unter diese Vergangenheit ziehen zu können glaubte.“ Was Norbert Elias als ein wesentliches Moment der Entstehung der Bundesrepublik kennzeichnete, bildete den Kern jener „deutschen Verhältnisse“, gegen die sich die Revolte der späten sechziger und frühen siebziger Jahre richtete.
Dort hat auch der „negative Patriotismus“ seinen Ursprung, der sich in den antiimperialistischen Internationalismus stürzte. Die „Dialektik“ zwischen dem „weltweiten Befreiungskampf“ und dem Widerstand „im Herzen der Bestie“ war nirgens so ausgeprägt wie in der Bundesrepublik. Auch hier war der Begriff der Utopie stets wörtlich zu nehmen: Deutschland als Un-Ort, „BRD“ als Chiffre für das kapitalistische, subkutan faschistoide System, und die parlamentarische Demokratie als formale Fassade. Selbst der Theoretiker des demokratischen Diskurses, Jürgen Habermas, schrieb 1962 über den bundesdeutschen Wähler: „Seine Meinungen dienen ihm daher als bargeldloses Zahlungsmittel in seiner Rolle als Mitglied einer Verbrauchergenossenschaft der politischen Tagesnachrichten.“
Obwohl die „Theorie des kommunikativen Handelns“ noch nicht dominierende gesellschaftliche Praxis geworden ist, würde Habermas heute - trotz „DM-Nationalismus“ - anders über den wahlberechtigten Bundesbürger urteilen als zu der Zeit, da die ersten VW-Käfer in Rimini einfielen, Franz-Josef Strauß 'Spiegel'-Herausgeber Augstein verhaften ließ, Ludwig Erhard die Intellektuellen „Pinscher“ nannte, Theateraufführungen von Bertolt Brecht untersagt wurden, KPD-Mitglieder im Gefängnis saßen und der Twist-Tanz eines einsamen Pärchens in München-Schwabing an einem lauen Sommerabend innerhalb kürzester Frist zum Einschreiten der Polizei und anschließenden „schweren Krawallen“ führen konnte.
Als Rudi Dutschke im Februar 1968 auf dem Berliner Kongreß gegen den Krieg der USA in Vietnam, „in dem auch wir tagtäglich zerschlagen werden“, vor fünftausend TeilnehmerInnen von einer „historisch offenen Möglichkeit dieser Periode der Geschichte“ sprach und mit den Worten „Es lebe die Weltrevolution und die daraus entstehende freie Gesellschaft freier Individuen!“ endete, hatte die autoritäre Revolte gegen die real existierende Bundesrepublik internationales Niveau erreicht. Bundeskanzler Kiesinger sah in ihr sogleich „eine Seuche, die wie die asiatische Grippe um die Welt geht“. Die Kampfansage war verstanden worden, die Frontlinie geklärt. Die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) zog daraus die wortwörtliche Konsequenz. Noch ihre Forderung nach dem Kriegsgefangenenstatus gemäß der „Genfer Konvention“ entsprach dem Verlangen, antiimperialistische Kombattanten und nicht Bundesbürger zu sein.
Aber auch die militante Linke außerhalb der „Stadtguerilla“ verstand sich als Feind des Staates Bundesrepublik, der mit seiner amtlichen Beglaubigung nicht lange wartete: Berufsverbote für „Verfassungsfeinde“. Daß ausgerechnet der sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt seinen Segen dazu gab und gleichzeitig kein klares öffentliches Wort zu dem mörderischen Bombenterror der US-Luftwaffe gegen Kambodscha fand, waren zusätzliche Signale für die „revolutionäre Linke“, entschlossen ihrer Pflicht nachzukommen: die Revolution zu machen. Doch schon im „Deutschen Herbst“ 1977 wurde sie zu Grabe getragen.
Die terroristische Offensive der RAF markierte den Höhepunkt des „bewaffneten Kampfes“, die offizielle Verkündung des „Staatsnotstands“ mit verschärfter Feinderklärung an die „Sympathisanten“ des Terrorismus erinnerte an das undemokratische, antirepublikanische Potential der Bundesrepublik. Dazwischen die militante Linke: Spontis und kommunistische Splitterparteien fühlten sich bedroht und waren verunsichert, schwankten zwischen Solidarisierung und Distanzierung, der Raum der RAF wurde zunehmend enger, die Existenzbedingungen einer linksradikalen Opposition in der Bundesrepublik prekär. Der doppelte Schock von Stammheim und Mogadischu löste vielfältige Fluchtbewegungen aus, aber auch neue Reflexionen.
Während sich K-Gruppen, am Ende ihres anachronistisch -absurden Schattenboxens, aufzulösen begannen und spontaneistische Linke in die Öko- und Alternativbewegung diffundierte, versuchte der in Dresden geborene Psychologieprofessor Peter Brückner 1978 in einem Buch, „uns und anderen die Bundesrepublik zu erklären“. Wegen der Mitherausgabe des von einem anonymen Göttinger „Mescalero“ verfaßten Nachrufs auf den von der RAF erschossenen Generalbundesanwalt Buback war Brückner bis kurz vor seinem Tod im April 1982 „vom Dienst suspendiert“ worden. Unter der Überschrift „Was ist des Deutschen Vaterland?“ wies er darauf hin, daß gerade die Abwesenheit „öffentlich -massenhafter Diskussionen“ über die deutsche Teilung ein Aspekt der Verdrängung der (gesamtdeutschen) NS-Zeit war: „Die Nichtexistenz eines gemeinsamen Bedürfnisses nach Wiedervereinigung muß daher im Zusammenhang mit kollektiven Verdrängungsleistungen in Westdeutschland betrachtet werden. Diese imgrunde nach innen, auf die eigene seelische und soziale Lage gerichtete Abwehr wird in den Beziehungen zur DDR gleichsam externalisiert, veräußerlicht; indem wir sie marginalisieren, 'abtrennen‘, bringen wir unbewußt auch ein Opfer. Verlores Land ist verlorene Schuld. Aber aus kollektiven Verdrängungen entstehen Brüche, Komplexe, Unstetigkeitsstellen im Kern eines möglichen 'Nationalgefühls‘ und in der Gesellschaftlichkeit des Menschen.“ Brückners bemerkenswerte Konsequenz: weil die Teilung Deutschlands „ein Unglück des 'wiederholten Neuanfangs'“ war, in dem die „besondere Thematik von Grenze, von Ab- und Ausgrenzung zu einer Deformierung des inneren Zusammenhalts der Bevölkerung und der staatlichen Wirklichkeit“ führte, blieb ihr gerade das versagt, was „die Nation benötigt“ hätte: „freie Vergegenwärtigung und Betrachtung der Vergangenheit“.
Brückners Analyse zielte zuallererst auf die bundesdeutsche Rechte, auf den konservativen Mainstream. Von heute aus betrachtet, trifft die Kritik zugleich die Linke, deren Ab und Ausgrenzungsmechanismen vor und nach 1977 auch der Vergegenwärtigung ihrer eigenen Geschichte im Wege standen. Auch sie entwickelte und pflegte ihre 68er -Nachkriegstraditionen, liebgewonnene Rituale und ans Spießerhafte grenzende Zu-Hause-Gefühle, die den unterschiedlichsten Zudringlichkeiten der Realität trotzen sollten.
Wie sehr Radikalität und Harmoniebedürfnis zusammenpassen, demonstrierte die Friedensbewegung in den frühen achtziger Jahren bei unzähligen Sitzblockaden, Menschenketten, Friedensgottesdiensten, auf Kongressen und Massenkundgebungen. Im Angesicht der atomaren Apokalypse entfaltete sie eine originäre Familienatmosphäre (inklusive Wohnzimmerstreit), ein „Wir-Gefühl“, das nur die sanfte, populäre Variante jener Identitätsprozesse war, die sich in der Punk-, Autonomen- und Hausbesetzerszene abspielte. Daß diese „Ökopax„-Mischung linksradikaler und grün-alternativer Provenienz gerade in der französischen Öffentlichkeit als Erwachen einer typisch „deutschen“ Bewegung beargwöhnt wurde, lag nicht nur an einem strukturellen Mißverständnis. In Paris spürte man genauer die (Friedens-)Sehnsucht nach Identität, die sich in der radikalen Negation zu äußern schien.
Der Kampf gegen Pershing II und Cruise Missiles, bei dem es so wenig wie in Berlin-Kreuzberg um irgendeine Revolution ging, war Teil des widersprüchlichen Prozesses, in dem die Linke in der Bundesrepublik „anerkannt“ und „integriert“ wurde. Es ist charakteristisch für die jüngste Gerschichte der Bundesrepublik, daß weder die Friedens- noch die Ökologiebewegung mit ihren späten „Siegen“ etwas anfangen konnte. Die Unfähigkeit der Grünen, aktiv (und nicht bloß reflexhaft) auf die von ihnen selbst geforderte Blockauflösung in Europa zu antworten, ist Ausdruck der Selbstmarginalisierung, die mit der langjährigen Marginalisierung der Gesellschaften Osteuropas durch die Mehrheit der Linken - vor allem in der Friedensbewegung korrespondiert.
Gleichwohl hat sich eine „Dialektik“ der Mitte entwickelt, die den „Zeitgeist“ der späten Achtziger bestimmte.
„Im Westen ist's am besten“ - was „Extrabreit“ zu Beginn der „Neuen Deutschen Welle“ 1980 noch ironisch über die Rampe schickte, beschreibt 1990 den Grundkonsens der Bundesrepublik. Doch seine Spannweite ist unvergleichlich größer und differenzierter als zu der Zeit, da ein Bundesinnenminister öffentlich bekannte, er könne nicht dauernd mit dem Grundgesetz unterm Arm herumlaufen.
Die Gesellschaft ist ziviler und offener geworden, doch sie ist noch lange keine demokratische Gesellschaft, deren Handlungskapazitäten mit ihrem Problembewußtsein ernsthaft wetteiferten. Parallel zur Politisierung entstand eine rein ästhetische Stilisierung, die es in der zynisch gewordenen Vernunft nicht mehr aushielt und das ehrgeizige Ziel verfolgte, mit dem Tempo des kulturellen Stillstands Schritt zu halten: „So gesehen ist Lebens-Design konsequente Emanzipation“, textete etwa Matthias Horx in seinem 1989 erschienenen Brevier Aufstand im Schlaraffenland.
Hans Magnus Enzensbergers Lob der bundesrepublikanischen Normalität ist dagegen so subversiv, daß ein 'Zeit' -Redakteur jedenfalls nicht in Lage ist, es zu entschlüsseln. Wenn jener schreibt, „der entzauberte Staat ist weit davon entfernt, abzusterben“, versteht dieser: „Der Staat stirbt ab.“ Und das kann natürlich „so nicht“ sein.
Das Mißverständnis ist chronisch. Auch Jürgen Habermas gibt zu bedenken, „es ist ja nicht so, als sei auch nur eines unserer systemspezifisch erzeugten Probleme durch den Sturz der Mauer gelöst worden“. Recht hat er; was hat der Fall des SED-Regimes der guten, bösen alten Bundesrepublik genutzt, in der Faßbinders Angriffe auf die Sehgewohnheiten „als hausbackene Wiederholung zur besten Sendezeit im Fernsehen laufen, hysterische Schreikrämpfe von Tod Revolution Inzest Folter Sodomie auf jedem Stadttheater stattfinden, und Macbeth als Mülldeponie von allen aufgeschlossenen Pädagogen empfohlen wird“, wie Enzensberger die Radikalität des bundesdeutschen Mittelmaßes skizziert?
Selbstverständnlich gar nichts, und deshalb haben wir tief drinnen mächtig Angst vor der kommenden Einverleibung unserer diskursiv-systemkritischen Fußgängerzone mit Hafenstraße, Rudi Völler und Talk im Turm in jene sächsische Altlastenprovinz mit Broiler und Braunkohle, wo Rumäniendeutsche, Roma und Sinti, Wolgaschwaben und Deutsch -Kirgisen, Polen, Oberschlesier, Tschechen und Slowaken ganz zu schweigen von den Thüringern und Mecklenburgern nur darauf warten, ihre systemspezifisch erzeugten Probleme gegen unsere einzutauschen.
Der 1:1-Tausch wird nicht auf Anhieb gelingen, aber die Probleme werden sich tatsächlich mischen, teils verringern, teils potenzieren.
Der Abschied von der Bundesrepublik fällt so schwer, weil auch sie ihre Inselrolle verlieren wird. Gerade die „unpolitische“ - Massenimmigration bedroht den bisherigen Komfort des europäischen Wohlstandsparadieses und die Kampfidylle gegen den „BRD-Staat“. Gemeine Unordnung droht allenthalben, und der Widerstand gegen Rassismus und Unterdrückung wird sich am Bahnhof Friedrichstraße genauso erweisen müssen wie der Protest gegen sozialchauvinistisches Besitzstandsdenken unter Frankfurter Lebensdesignern. Nun haben wir ihn, den globalen Zusammenhang, den grenzenlosen Kampf im Weltmaßstab. Und sagen leise „Adieu BRD!“ Auf ein neues!
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