: Boris Jelzin - der Populist
Der Wahlsieger von Moskau ist an die Hebel der Macht zurückgekehrt ■ P O R T R A I T
Boris N. Jelzin sieht sich als Gegenspieler Gorbatschows. Der populäre Politiker ist diesem Ziel nähergekommen. Als Vorsitzender des Obersten Sowjet der Russischen Sozialistsichen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) wird er über eine beträchtliche Macht verfügen. Immerhin nimmt Rußland drei Viertel der Landfläche der Sowjetunion ein und ist mit 145 Millionen Einwohnern auch von der Bevölkerung her die weitaus stärkste Republik. Wenn Jelzin seine Ankündigung wahr macht, größere Rechte von der Sowjetunion auch für seine Republik einzufordern, könnte Michail Gorbatschow als Präsident der Sowjetunion schon bald zu einer Kooperation mit seinem ungeliebten „linken“ Gegenspieler gezwungen werden.
Schon im März 1989, bei den Wahlen zum Obersten Sowjet, konnte Jelzin seinen bisher größten persönlichen Triumph feiern, als er in Moskau 90 Prozent der Stimmen gewann. Jelzin, der schon früh für eine Radikalisierung der Perestroika eintrat, ist mit seinem bescheidenen Lebenstil er wohnt mit seiner Familie immer noch in einer normalen Dreizimmerwohnung - zu einem der wenigen prominenten Parteimitgliedern geworden, dem die Sowjetbürger unbedingtes Vertrauen entgegenbringen. Und dieses Vertrauen wurde nicht einmal zerstört, als der 59jährige Jelzin sich eine Provinzposse leistete, als er im vorigen Jahr pitschnaß vor einen Milizsoldaten trat und behauptete, man habe ihn von einer Brücke in die Moskwa gestürzt. Seine Popularität wurde gar noch größer, als er von den sowjetischen Medien mit lallender Stimme während einer USA-Reise vorgeführt wurde. Der gute Boris hatte dem Alkohol zu sehr zugesprochen, der Versuch jedoch, diesen Umstand gegen ihn zu wenden, schlug fehl: Offensichtlich ist es keine Schande dem Whisky zuzusprechen in einem Land, das wegen des Saubermanns und Jelzin-Gegners Ligatschow unter Alkoholentzugsentscheinungen leidet. Jelzin ist für die breite Masse der Bevölkerung zu einem Symbol der Machtlosen gegen „die da oben“ geworden. Und diese Rolle hat Jelzin gerne angenommen.
Seine Parteikarriere begann der schwergewichtige Jelzin in Swerdlowsk im Ural. Er setzte sich dort für die Belange der Arbeiter ein - keine Selbstverständlichkeit für die Mitglieder der kommunistischen Nomenklatura. Dank Gorbatschow stieg er 1985 ins Machtzentrum auf. Seit Juli 1985 ZK-Sekretär für Bauwesen, wurde er im Dezember Kandidat des Politbüros und Moskauer Parteichef. Gerade in dieser Funktion erregte er schon bald Aufmerksamkeit, weil er die Privilegien der Nomenklatura aufs Korn nahm. Unvergessen sind seine Auftritte in den Moskauer Lebensmittelläden, begleitet von einem Pulk Journalisten und dem Gehabe eines Fürsten, der unnachsichtig die Verfehlungen und die Korruption der Verantwortlichen aufdeckt.
Als er im April 1987 die Halbheiten der Politik der Perestroika öffentlich anprangerte, ein schnelleres Tempo der Veränderungen forderte und im Oktober desselben Jahres die Konservativen und Jegor Ligatschow scharf angriff, schien es, als hätte er den Bogen überspannt. Er verlor in der Folgezeit seine hohen Parteiämter, was ihn aber nicht daran hinderte, seine politische Kritik weiter öffentlich zu vertreten. 1988 forderte er Ligatschow in einem BBC -Interview - sowjetische Medien standen ihm zu dieser Zeit nicht zur Verfügung - zum Rücktritt auf und griff Michail Gorbatschow wegen dessen zögerlicher Haltung an. Die Antwort Ligatschows auf der 19. Allunionsparteikonferenz „Boris, du hast Unrecht“ ist inzwischen zum geflügelten Wort geworden und half Jelzin, sich als Oppositioneller zu profilieren.
Während sich in den Randrepubliken Volksfronten für die Perestroika bildeten, die sowohl die Demokratisierung wie auch die nationalen Forderungen auf ihre Fahnen schrieben und deshalb große Durchschlagskraft entwickelten, mußten sich die heterogenen demokratischen und unabhängigen Gruppen und Grüppchen in Rußland, vor allem aber in Moskau, hinter Jelzin sammeln. Obwohl viele dieser Oppositionellen in Jelzin nur die populistische Variante des Parteikarrieristen sehen und somit auch Abstand wahren, erkannten sie doch an, daß es Jelzin war, der die „Massen“ erreichen konnte.
Die demokratische Opposition profitiert vom Arbeiterpopulismus Jelzins und der von der Reputation der Opposition, die ihm den Geruch des alten Apparatschicks genommen hat. Der überragenden Wahlsieg Jelzins in Moskau war dann folgerichtig. Doch bei den demokratischen Oppositionellen, bei der bunten Koalition von Friedenskämpfern, antistalinistischen Memorialgruppen, politischen Parteien bis weit ins liberal-konservative Lager hinein, blieb die Kritik an Jelzin bestehen, die demokratische Opposition rieb sich weiter an seiner zweideutigen Haltung des Volkstribuns. Er sei zwar für die Beschleunigung der Perestroika, sagen die Oppositionellen, aber letztlich nur aus dem Interesse heraus, eine demokratische Volksrevolution und damit die endgültige Entmachtung der Partei und des Apparats zu verhindern. Jelzin kann in seinem neuen Amt beweisen, daß dem nicht so ist.
Erich Rathfelder
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