: Der tendenzielle Fall der Orgasmusrate
Geht mit dem Arbeiter-und Bauernstatt ein Vögelbiotop zugrunde? ■ K O M M E N T A R
Es klingt so grotesk, daß es im Original zitiert werden muß, unter der Überschrift „DDR-Frauen kriegen öfter einen Orgasmus“ berichtet 'Bild‘ auf Seite 1: „Es klingt grotesk, aber der Leipziger Professor Dr. Kurt Starke will herausgefunden haben: 'Die Orgasmusrate im Ostteil Deutschlands ist höher.'“ Hintergrund dieser Behauptung ist eine Untersuchung, die Anfang der 80er Jahre mit Studentinnen in Ost und West gemacht wurde. Ergebnis: 37 Prozent der DDR-Frauen hatten beim Geschlechtsverkehr immer oder fast immer einen Orgasmus. In der Bundesrepublik waren es nur 26 Prozent. Die DDR-Nachrichtenagentur 'adn‘ verkündete gestern diese Erkenntis unter der Überschrift: „Experten fürchten um Entfremdung des DDR-Sex. Also: Sind die Forschungsergebnisse des Herrn Professor Starke eine Sensation - oder sind sie etwa nur plump getarnte Propaganda von alten PDS-Parteigängern, denen jedes Argument recht ist, vor der Einheit zu warnen? Haben DDR-Bürger weniger Orgasmen, wenn sie mit Bundesdeutschen in einem Staat leben?“
Haben sie natürlich nicht, auch der freie Zugang zur Pornographie wird daran nichts ändern, weiß die von 'Bild‘ befragte Diplom-Psychologin: „Pornos haben nichts mit partnerschaftlichem Sex zu tun. Für die Orgasmusfähigkeit ist es vor allem wichtig, sich zu entspannen und sich nicht ablenken zu lassen.“ Und dazu gab es in der „DDR Erich Honeckers“, nach Deutung der Experten der Bild-Redaktion, reichlich Gelegenheit: „Viel Arbeit, wenig Lohn - ab ins Bett. Überall dort, wo den Menschen nichts oder wenig geboten wird... - überall dort wird öfter und intensiver Sex getrieben.“ Was lernen wir daraus, außer daß es kein Wunder ist, warum der Papst für weniger Arbeit und mehr Lohn predigt: Mit dem Arbeiter - und Bauernstaat geht offenbar ein Sex- und Vögel-Paradies zugrunde, die harte D-Mark droht der Entspannung und Ablenkungsfreiheit im erotischen Biotop den Garaus zu machen. Mit Auto, Disco, Video - typischen, entfremdeten Ersatzbefriedigungen also, wie 'Bild‘ (mit täglich mindestens einem Auto und einer Nackten) bestens weiß. Warum dann dieser Titel? Hat die auflagenscharfe Ost -Redaktion alle anderen Titel aus Hamburg abgelehnt? Soll im Westen der Massenzulauf der „Anonymen Vereinigungsgegner“ mit dem Image der „geilen“ DDR-Frau gestoppt werden? Gehört der tendenzielle Fall der Orgasmusrate zu den „nationalen Aufgaben“ mit dringendem Handlungsbedarf? Nach einer taz -Blitz-Umfrage erklärt sich das Mysterium „DDR-Frauen kriegen öfter einen Orgasmus“ nur aus einer Tatsache: 'Bild‘ -Redakteure kriegen immer seltener einen hoch.
Mathias Bröckers
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