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„Die Gesellschaft muß vom Volk neu geschaffen werden“

■ Der peruanische Guerillakommandant Victor Polay spricht über die Strategie des „Movimento Revolucionario Tupac Amaru“, über seinen Jugendfreund Alan Garcia, den heutigen Präsidenten Perus, und über die konkurrierende Guerrillaorganisation „Sendero Luminoso“ / Das Interview führte Nina Boschmann im Gefängnis Canto Grande in Lima

Victor Polay Campos ist Mitglied des Zentralkomitees und Kommandant der Guerillabewegung „Movimento Revolucionario Tupac Amaru“ (MRTA), die Mitte der achtzigerJahre aus MTA und MIR-IV, zwei Organisationen der radikalen Linken, hervorging. 1986/87 begann die MRTA den bewaffneten Kampf gegen die Regierung Alan Garcia. Ihre Aktionen konzentrieren sich auf die Departements San Martin, Loreto und Uyacali in der nördlichen Amazonasregion. Die Zahl der bewaffneten Kämpfer wird auf 1.000 bis 1.500 geschätzt.

Im Unterschied zum „Sendero Luminoso“, der bekannteren Guerillaorganisation, zielen die Aktionen der MRTA nicht auf die Vernichtung der staatlichen Ordnung und staatlicher Einrichtungen. Vielmehr soll eine breite Volksfrontbewegung den Aufbau einer neuen, sozialistischen Gesellschaft ermöglichen. Die politische Arbeit hat einen hohen Stellenwert; in der Partei UDP besitzt die MRTA ein legales politisches Sprachrohr. Bei den letzten Parlamentswahlen haben UDP-Vertreter auf der Liste der Vereinigten Linken (Izquierda Unida) kandidiert.

Victor Polay ist promovierter Jurist, er spricht fließend französisch und baskisch. Er hat in Frankreich und Spanien studiert - übrigens gemeinsam mit Alan Garcia, mit dem er zeitweise sogar zusammenwohnte.

Ab 1987 führte Polay als „Commandante Rolando“ eine Reihe von Guerillaaktionen in San Martin, bis er - durch Zufall im Februar vergangenen Jahres bei einer Razzia im Touristenhotel von Huancayo verhaftet wurde.

Das folgende Gespräch wurde im Gefängnis Canto Grande in Lima geführt, das ursprünglich als Hochsicherheitsgefängnis nach bundesdeutschem Muster konzipiert war. Doch Perus Infrastruktur zerfällt durch Krieg und Wirtschaftskrise, und so sind auch die Knäste nicht mehr, was sie waren: längst sind die Trennscheiben zertrümmert, die zentrale Überwachungseinheit gähnend leer und von den Besuchsbeschränkungen ist nur noch die Einteilung in „Frauenetage“ und „Männeretage“ geblieben. Die Schließer sind im Streik, es herrscht freier Zugang von neun bis 17 Uhr. Für die „politischen Gefangenen“ hat man getrennte Häuser eingerichtet - je eins für Aktivisten von „Sendero“ und MRTA. Osman Morote (ein „Sendero„-Führer, der kurz nach Polay verhaftet wurde) und Polay haben „Einzelzimmer“, die von innen abschließbar sind.

Am Ende des Gesprächs geleitet Polay die Berichterstatterin als höflicher Gastgeber bis zur Eingangstür des Traktes: „Wenn Sie noch mal vorbeikommen wollen - die Tür ist immer offen!“

taz: Legen Sie Wert darauf, mit Ihrem militärischen Rang angesprochen zu werden?

Victor Polay: Ach, Genosse ist schon o.k.

Also, Genosse Victor, können Sie unseren Lesern die wesentlichen Elemente der MRTA-Strategie skizzieren?

Ziel der MRTA ist es, die formale, die sogenannte repräsentative Demokratie durch die Macht des Volkes zu ersetzen. Unsere Organisation ist dreistufig: zunächst das revolutionäre Volksheer, das aus Vollzeitsoldaten besteht; bei Bedarf wird es durch Teilzeitmilizen ergänzt, und an der Basis, in den Dörfern, gibt es die Selbstverteidigungskomitees, deren Aufgaben über den militärischen Bereich weit hinausgehen - sie sollen auch soziale, politische und juristische Konflikte lösen. Wir schaffen keine „befreiten Gebiete“ im üblichen Sinne, sondern wir unterstützen mit militärischen Mitteln die Schaffung organisatorischer Basen der Volksmacht. Wenn die Guerilla dabei Erfolg hat, wächst das Vertrauen des Volkes in seine eigene Kraft. Wir würden zum Beispiel nie zu einem „Paro Armado“, einem bewaffneten Streik aufrufen, wie das der „Leuchtende Pfad“ tut. Wenn die Leute nur aus Angst vor Sanktionen zu Hause bleiben, führt das nicht zur Bewußtseinsbildung - solche Praktiken schaden dem bewaffneten Kampf. Als wir im Nordosten einen Streik organisiert haben, war das ganze Volk mit uns auf den Barrikaden. Das hat die MRTA sehr gestärkt, aber längst nicht alle Mitglieder der Volksorganisationen dort gehören der MRTA an.

Warum hat die MRTA den bewaffneten Kampf gerade in der Provinz San Martin begonnen?

Die Bedingungen erschienen uns günstig: Auf dem Land sind die Bauern hervorragend organisiert, die Gegend ist eine der stabilsten Basen der CCP (Confederacion Campesina del Peru) im ganzen Land. Und in den Städten gibt es die „Frentes de Defensa“ (eine Art Volksfront, Anm. d.Red.). 1985/86 begannen wir mit dem Aufbau des Volksheeres, 1987 fingen die Aktionen an.

Können Sie Beispiele nennen?

Wir haben während der Kampagnen „Che Vive“ und „Tupac Amaro Libertador“ vorübergehend einige Provinzstädte eingenommen, Polizeiposten angegriffen und öffentliche Versammlungen durchgeführt. Die Aktionen konzentrierten sich auf Gebiete, wo das Militär Bauern umgebracht hatte. 1987 ist es uns zum ersten Mal gelungen, eine Provinzhauptstadt einzunehmen, Juanji, mit 25.000 Einwohnern. Im selben Jahr hielten wir zwei Wochen lang das Sisa-Tal (ein Maisanbaugebiet, Anm. d.Red.) besetzt. Bei solchen Aktionen erbeuten wir Waffen, wir nehmen Polizisten fest und führen ein öffentliches Anklageverfahren gegen sie durch - sie werden dann ermahnt, sich anständig zu benehmen und wieder freigelassen. Wir halten uns an die Genfer Konvention und respektieren die Rechte unserer Gefangenen. Ähnlich verfahren wir mit Verbrechern: im allgemeinen werden sie aufgefordert, aus der Gegend zu verschwinden; lediglich einige Vergewaltiger und Drogenhändler haben wir sofort erschossen. Die Ausbildung unserer Truppe braucht Zeit. In den Camps haben wir eigene Schulen, in denen Theorie und Praxis des Guerillakampfs gelehrt wird.

Was lernt man als Guerillakommandant?

Im Grunde lernt man aus seinen Fehlern. In Cuczo zum Beispiel sind wir gescheitert, weil wir im Stil von Robin Hood Lebensmittel verteilt haben. Das hat uns zwar viel Applaus eingebracht, aber keine Integration in die Bevölkerung ermöglicht. Außerdem gibt es ja Bücher Lateinamerika hat reichhaltige Erfahrungen mit Guerillabewegungen. Einige unserer Leute waren schon 1965 bei der Guerilla von Luis de la Puente Uceda und können ihr strategisches Wissen einbringen.

1985, als sie sich formierte, hat die MRTA dem gerade ernannten Präsidenten Garcia den Dialog angeboten. Was unterscheidet die damalige Situation von der heutigen?

1985 ist die Regierung durch eine beispiellose Streikwelle praktisch aus dem Amt gejagt worden. Bei den Wahlen gewannen die Linke und Alan Garcias APRA die überwältigende Mehrheit der Stimmen, und Alan Garcia versprach eine radikale Umwandlung der Gesellschaft.

Jede Avantgarde muß natürlich Ausdruck des Volkswillens sein, also haben wir im August 1985 Verhandlungen über die Vermeidung eines Krieges angeboten. Aber Alan Garcia fühlte sich damals, auf dem Höhepunkt seiner Popularität, sehr stark und ignorierte unsere Initiative. Die von ihm eingesetzte Friedenskommission hatte keinerlei Befugnisse.

1986 gab es das berühmte Treffen der sozialistischen Internationale und das Massaker in den Knästen - daraufhin war natürlich auch bei uns die Tür zu.(Das Militär erhielt von Garcia die Vollmacht, einen Gefängnisaufstand gewaltsam zu beenden; dem Massaker fielen mehrere hundert Gefangene zum Opfer, Anm. d.Red.).

Sie waren mit Alan Garcia früher befreundet...

Nun, wenn man in bestimmte Familien hineingeboren wird, kommt man automatisch in die APRA. Alan Garcia kam aus einer APRA-Familie und ich auch. Als Mitglieder der APRA -Jugendorganisation haben wir beide 1970 bewaffnete Aktionen gegen die Militärregierung Velasco durchgeführt. Ich wurde 1972 verhaftet, später aber wieder freigelassen. In Spanien und Frankreich haben wir uns dann als Studenten wiedergetroffen; meine Beziehung zu Alan Garcia war herzlich, aber nicht mehr politisch, weil ich mittlerweile beim MIR war. Heute bezeichnet mich Alan Garcia als stinknormalen Verbrecher.

Was ist Ihr politisches Urteil über die fünf Jahre APRA -Regierung, die nun zu Ende gehen?

Die APRA war immer antioligarchisch und antifeudal orientiert. Aber das Land hat sich verändert. Peru ist nicht mehr halbfeudal, sondern abhängig kapitalistisch. Es gibt eine Bourgeoisie, die die Interessen des Imperialismus vertritt. Diese Leute sind zwar weder Nationalisten noch an der Entwicklung des Landes interessiert, aber es sind auch keine feudalen Großgrundbesitzer mehr. Die Arbeiterklasse ist quantitativ enorm gewachsen, man braucht also antikapitalistische Elemente in der Theorie, die die APRA nicht hat. Sie ist ideologisch rückständig.

Alan Garcia hatte kein Konzept für die Umwandlung der Gesellschaft. Er hielt radikale Reden, bezahlte aber die Auslandsschuld weiter. Wie kann man den Imperialismus bekämpfen, ohne der abhängigen Bourgeoisie an den Kragen zu gehen?

Der entscheidende Faktor in den vergangenen fünf Jahren war jedoch der schmutzige Krieg mit den Tausenden Toten und Verschwundenen. Es gab und gibt keine Mechanismen der nationalen Konsensbildung, wie sie in Europa grosso modo doch gegeben ist.

Ungefähr das gleiche sagt die legale Linke auch...

Die legale Linke ist zahm geworden, für sie ist die Teilnahme an den Wahlen keine strategische Überlegung, sondern ein Ziel an sich. Und es handelt sich um Wahlen, aus denen Regierungen hervorgehen, die den schmutzigen Krieg zu verantworten haben. Man muß das ganz klar sagen: der schmutzige Krieg in seinen jetzigen Ausmaßen hat erst mit den demokratisch gewählten Regierungen von Belaunde und Garcia nach 1980 begonnen.

Welche Alternativen gibt es?

Das Gesellschaftsmodell muß vom Volk neu geschaffen werden

-von der Basis her. In jedem Betrieb, in jeder Schule muß es Mechanismen der direkten Kontrolle durch das Volk geben. Die Monopole müssen in Volkseigentum übergehen. Damit ist nicht Staatseigentum gemeint - Öffentliche Betriebe sind von der jeweiligen Regierung abhängig, und damit sind der Bürokratisierung und Klientelwirtschaft Tür und Tor geöffnet. Und auch durch die Wiederbelebung von Kultur und Gebräuchen entsteht eine neue Identität des Landes.

Welche Bedeutung haben die Ereignisse in Osteuropa für die MRTA?

Das ist wertvolles Anschauungsmaterial, zum Beispiel was die Frage der Bürokratisierung der Gesellschaft und die Privilegierung einer Partei angeht. Die UdSSR hat ohne Zweifel auch den Comecon funktionalisiert, was zu verzerrten Strukturen führte. Aber eine Revolution kann man nicht exportieren, sie muß überall vom Volk neu geschaffen werden.

Welche Rolle spielt dabei nach Ihrer Meinung der Sendero Luminoso?

Sendero ist dogmatisch stalinistisch. In seinen Debatten ist nicht der geringste Fortschritt zu verzeichnen. Und der Mangel an Theorie geht einher mit einer diktatorischen, terroristischen militaristischen Praxis, die sich in vielen Fällen gegen das Volk selbst richtet.

Sendero repräsentiert die marginalisierten, zurückgebliebensten Sektoren der Gesellschaft, während die Linke eher in den organisierten Bereichen vertreten ist.

Sendero-Führer Osman Morote sitzt ja nun sozusagen nebenan

-diskutieren Sie miteinander?

Nein, Sie wissen doch, Sendero diskutiert nicht.

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