: Van Goghs Wollknäuel
■ Zum internationalen Van-Gogh-Symposium in Amsterdam und zur Neuausgabe seiner Briefe
Stefan Koldehoff
Über das Leben des Malers weiß man in der Regel mehr als über seine künstlerische Absicht, seine Farbtheorien, seine kompositorischen Ideen: Er wollte Prediger werden. Er lebte eine Weile mit einer Hure zusammen. Er schnitt sich ein Ohr ab. Er war verrückt.
Leben und Werk Vincent van Goghs wurden seit seinem Tod vor 100 Jahren systematisch mystifiziert. Das Bild vom armen Irren, der unter der südfranzösischen Sonne litt, die er in so wunderbar leuchtenden Farben malte, und der dennoch zu Lebzeiten nur ein einziges Bild verkauft haben soll, fand über ungezählte Monographien, Bildbände, psychoanalytische Studien und Romane mit kunsthistorischem Anspruch Eingang in das allgemeine Bewußtsein. Ein internationales Symposium im Amsterdamer Rijksmuseum über Vincent van Gogh hat jetzt dazu beigetragen, das falsche Bild, das über Jahrzehnte hinweg in der Öffentlichkeit entstanden ist, wieder einigermaßen zurechtzurücken.
Das Symposium, zu dem die renommiertesten Van-Gogh-Forscher aus aller Welt nach Amsterdam gekommen waren, fiel zeitlich mit dem Erscheinen der Neuausgabe seiner Briefe zusammen. Zunächst nur in niederländischer Sprache liegen jetzt erstmals sämtliche Briefe vollständig in gedruckter Form vor, die Vincent van Gogh entweder selbst geschrieben oder empfangen hat. Teile der Korrespondenz waren bislang aus verschiedenen Gründen von den Nachfahren des Malers zurückgehalten worden, weil die Zeit für eine Veröffentlichung noch nicht reif schien. Die Anregung zu einer Herausgabe der Briefwechsel war noch von Theo van Gogh ausgegangen, der seinem Bruder nach schwerer Krankheit im Januar 1891 in den Tod folgte. Er hatte vorher noch versucht, den Kritiker und Literaten Albert Aurier zu einer Biographie zu überreden. Aurier aber, der noch wenige Monate vor dessen Tod den ersten begeisterten Artikel über van Gogh im 'Mercure de France‘ veröffentlicht hatte, wollte nicht. Statt dessen publizierte er, wieder im Zentralorgan der französischen Symbolisten, in den Jahren 1903 bis 1905 insgesamt 13 Briefe, die van Gogh unter anderem an den Malerfreund Emile Bernard geschrieben hatte.
Kurz vor dem Ersten Weltkrieg besorgte schließlich 1914 Theos Witwe Johanna van Gogh eine erste Ausgabe, die ausschließlich den Briefwechsel zwischen den beiden Brüdern enthielt. Das Interesse an der Person Vincent van Goghs habe nicht geweckt werden sollen, bevor man sich mit seinem Werk auseinandergesetzt hatte, begründete sie das relativ späte Erscheinen der Briefe; sie habe außerdem so lange gebraucht, um die ohne Zweifel umfangreiche Korrespondenz zu ordnen. Johanna ging in ihrem Vorwort zur Erstausgabe nicht darauf ein, daß sie die Briefe auch inhaltlich verändert hatte. Wesentliche Passagen fehlten auch in der von Theos und Johannas Sohn Vincent Wilhelm van Gogh veröffentlichten mehrbändigen Briefausgabe, die auch die Briefe an andere Geschwister, Freunde und Bekannte enthielt. Man wollte Rücksicht nehmen auf die Malerinnen und Maler, über die sich Vincent in seinen Briefen kritisch äußerte, und hatte viele private und intime Passagen ebenfalls gestrichen.
Die jetzt vorliegende Briefausgabe, herausgegeben von Han van Crimpen und Monique Berends-Albert, enthält vollkommen neue Übersetzungen aller Briefe, deren größter Teil sich im Besitz des Amsterdamer Museums befindet. In chronologische Reihenfolge gebracht und nicht mehr wie bisher nach Adressaten und Absendern geordnet, enthalten sie auch die Briefskizzen an ihren ursprünglichen Stellen. Bisher bestehende, zum Teil sinnentstellende Unterschiede zwischen den Originalbriefen und ihrer gedruckten Fassung entfallen vollständig. So findet sich in einem frühen Brief van Goghs an seinen Bruder jetzt eine vollständige Liste der 30 Maler, die der angehende Künstler als seine Vorbilder bezeichnete. Johanna van Gogh hatte in ihrer Ausgabe nur zehn daraus ausgewählt - die anderen erschienen ihr zu unbedeutend.
Eine Woche nach der Buchpräsentation hatte sich zu einem dreitägigen Symposium in Amsterdam alles versammelt, was in der Van-Gogh-Forschung Rang und Namen hat. Großartige neue kunsthistorische Erkenntnisse waren nicht zu erwarten gewesen, diesen Anspruch hatten die Organisatoren auch von vornherein nicht gestellt. Es ging darum, dem Mythos, der seit hundert Jahren um Vincent van Gogh herum aufgebaut worden ist, wissenschaftlich belegbare Fakten entgegenzusetzen. So wies der Nestor der Van-Gogh-Forschung und Herausgeber des aktuellen Werkeverzeichnisses, Dr. Jan Huisker, in einem lebendigen Vortrag eindrucksvoll nach, wie seit Beginn dieses Jahrhunderts Fehlinterpretationen, Mißverständnisse und pure Erfindungen von den Autorinnen und Autoren als vermeintliche Tatsachen von einer Biographie in die nächste übernommen wurden. Nur die wenigsten von ihnen schienen tatsächlich an einer eigenständigen Auseinandersetzung mit Leben und Werk interessiert. So hält sich bis heute hartnäckig das Gerücht, van Gogh habe zu Lebzeiten nur ein einziges Bild verkauft. Selbst was Ausstellungen anbetrifft, ist diese Aussage weder wissenschaftlich gesichert noch wahrscheinlich. Gerade unter den Künstlerinnen und Künstlern in Paris, wo Vincent eine Zeitlang bei seinem Bruder lebte, gab es einen regen Bilderaustausch - oft auch gegen Bezahlung.
Zu den Wenigen, die nach wie vor um Aufklärung ringen, zählt neben dem amerikanischen Kunstprofessor Lauren Soth, dem Japaner Tsukasa Kudera und dem ebenfalls anwesenden Organisator der gefeierten New Yorker Van-Gogh -Retrospektiven, Ronald Pickvance, auch die junge deutsche Kunsthistorikerin und Restauratorin Cornelia Peres. Von ihr kam der interessanteste Vortrag des Symposiums. Gemeinsam mit ihrer amerikanischen Kollegin Carol Stringari vom Museum of Modern Art hat sie in den vergangenen Monaten in mühevoller Kleinarbeit van Goghs Tryptichon mit blühenden Obstbäumen unter dem Mikroskop von nachgedunkelten Eiweißresten gesäubert - die Frühlingsbilder leuchten jetzt wieder in pastellenen Farben.
Bei ihrer Arbeit in den Depots der Van-Gogh-Stiftung stieß die gebürtige Koblenzerin auf ein kleines Lackkästchen, offensichtlich aus dem Nachlaß Theo van Goghs stammend. Während der darin enthaltene ausgestopfte Eisvogel relativ einfach als Modell für ein kleines Ölgemälde identifiziert werden konnte, gaben die zahlreichen mehrfarbigen Wollknäuel zunächst einige Rätsel auf. Cornelia Peres stieß schließlich auf das im vergangenen Jahrhundert in Paris erschienene Farbmusterbuch einer Textilfirma, das eben jene in der Kiste enthaltenen Farbkombinationen abbildete. Als sie daraufhin einige der Gemälde van Goghs aus dem Rahmen löste und an deren vorher vom Holz abgedeckten Rändern die Farben in ihrem ursprünglichen Zustand vor Ausbleichen und Nachdunkeln sah, stellte die Restauratorin verblüffende übereinstimmungen in deren Auswahl fest. Am deutlichsten wird die Orientierung an den Wollfarben am Bildnis der Agostina Segatori, das als L'Italienne heute im Pariser Musee d'Orsay hängt. Sowohl der obere als auch der rechte Rand der hochformatigen Leinwand sind hier von einem bislang nicht näher interpretierten Farbband eingefaßt. Dünne nebeneinandergesetzte Pinselstriche in sich einander abwechselnden Farben gleichen ohne jeden Zweifel auch in ihrer Struktur und Anordnung den Wollstreifen im Farbmusterbuch. Über ihre Restaurationsarbeit und Forschung wird Cornelia Peres in Kürze in der vom Van-Gogh-Museum herausgegebenen Reihe Cahiers Vincent berichten.
Vincent van Gogh, Sämtliche Briefe. Herausgegeben von Han van Crimpen und Monique Berends-Albert. Verlag SDU Staatsdrukkerij. Vier Bände mit ca. 2.400 Seiten, 14 Farbabb., 200 sw-Abb., Dfl. 275,
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen