: Schweres Erbe: Das Bildungssystem
■ betr.: "DDR-Schulen mit ungewisser Zukunft", "Da kommt interkulturelle Erziehung auf uns zu" (Interview mit Prof. Jürgen Raschert), taz vom 1.6.90
betr.: „DDR-Schulen mit ungewisser Zukunft“, „Da kommt interkulturelle Erziehung auf uns zu“ (Interview mit Prof. Jürgen Raschert), taz vom 1.6.90
Das wohl schwerste Erbe, das wir in der DDR zu bewältigen haben, ist unser Bildungssystem. Nach Anprangerung der „Doppelzüngigkeit“ in der Erziehung hat man sich nach jenem denkwürdigen Oktober '89 zunächst die Köpfe heiß geredet über Wirtschaft, Parteidiktatur und Stasi. Auch heute noch scheint mir die Kritik, die man gelegentlich über das Bildungswesen hört und liest, mehr über die Position des Kritikers auszusagen, als über die wirkliche Situation des zu Kritisierenden. Prof. Raschert spricht vom „Pauksystem des 19. Jahrhunderts“. Für mich ist das nichts anderes als eine Etikettierung, die niemandem hilft. (...)
Die Hauptursache gegenwärtiger Un-Bildung ist eine politische. Politische und weltanschauliche Thesen wurden gelernt. Die Auseinandersetzung damit (falls es sie gab), war eine oberflächliche und hatte vielfach etwas Scholastisches an sich. Gelegentliche Versuche aufgeklärter Lehrer (die gab und gibt es auch!), ernsthafte und freie Diskussionen zu führen, verliefen wegen der Gesamtatmosphäre sehr schnell im Sande. Die geistige Situation war durch eine Art „Bewußtseinsspaltung“ gekennzeichnet. Wer aber wäre als junger Mensch in der Lage, in einer wie eine Schutzhülle um sein wirkliches Ich gelegten ideologischen Welt wirklich ernsthaft zu denken? Diese offizielle geistige Welt gab es nicht nur auf den Pionier- und FDJ-Veranstaltungen oder im Fach Staatsbürgerkunde. Das setzte sich fort im Literaturunterricht, in Geschichte, Geographie, Astronomie bis hin zur Mathematik.
Also doch eine „Paukschule“? Nein! Denn es ging nicht um die Lerninhalte, sondern um die Zensuren. Die Zensur war der Lohn für absolvierte „Lernarbeit“. Dann durfte der Schüler vergessen und zu neuen Stoffeinheiten „vorwärtsschreiten“. Auch das stimmt natürlich nicht absolut, aber es war die Regel. Der Erfolg war die bestandene Abschlußprüfung. Niemanden, auch die verantwortlichen Schulpolitiker nicht, interessierte es, was ein Schüler von dem Gelernten nach drei oder fünf Jahren noch wußte. Dafür sind ja die Lehrer der Polytechnischen oder erweiterten Oberschulen nicht mehr zuständig. So zeigen sich die Mängel und Schwächen unseres Bildungssystems nicht nur in der Idelogisierung des Unterrichts, sondern auch in der „Zensurenhascherei“ und dem daraus resultierenden äußerst geringen Wissens- und Bildungsstand.
In dieser Situation gab es dennoch Lichtblicke. Das waren die Berufsausbildung mit Abitur und die Möglichkeit, als gestandener Facharbeiter durch einen Vorkurs zum Hochschulstudium zu kommen. Gewiß muß nicht jeder Schlosser ein Abitur haben, aber ein junger Mensch, der einmal Diplomingenieur werden oder eine andere höhere technische Qualifikation erreichen möchte, täte gut daran, vorher erst einmal die Grundlagen seines Faches gelernt zu haben, und nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit der Hand. In diese Bereiche, eben weil sie handwerklicher Natur sind, können ideologische Ausrichtungsversuche nicht vordringen. Und den Studenten gab und gibt es Sicherheit zu wissen, sie haben einen Beruf und können notfalls jederzeit in ihn zurückkehren. Das sollte man bei den auf uns zukommenden Veränderungen nicht vergessen.
Gerd Robbel, Bestensee (DDR)
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