: Für Christa Wolf
Ein Brief von Lew Kopelew an die 'Zeit‘, die 'FAZ‘ und die 'Welt‘ ■ D O K U M E N T A T I O N
Während der vergangenen Wochen sind in Ihren Zeitungen mehrere Artikel von verschiedenen Autoren erschienen, die aber ein und dasselbe Ziel verfolgen: Christa Wolf als „privilegierte Dichterin der DDR und SED“ herabzuwürdigen.
Ihre Veröffentlichung Was bleibt? brachte es mit sich, daß in einem so kurzen Zeitabschnitt in drei so verschiedenen Zeitungen ein konzentriertes Trommelfeuer von ideologischen Denunziationen losbrach. Die einzelnen Beiträge unterscheiden sich im Stil und im Vokabular - der eine argumentiert mit frisierten Zitaten, der andere beruft sich auf Gerüchte, um eine längst widerlegte Unwahrheit zu wiederholen: Christa Wolf habe ihre Unterschrift von einem Protestbrief gegen Wolf Biermanns Ausbürgerung zurückgenommen. Diese gezielte Verleumdung setzte im Herbst 1987 ein ihr übel gesonnener Kritiker in Umlauf, als Christa Wolf den „Geschwister-Scholl-Preis“ erhielt. Sie dementierte es öffentlich.
Allen diesen neuesten Beiträgen zu den gleichzeitig einsetzenden „kritischen Feldzügen“ gegen eine weltweit anerkannte und geschätzte deutsche Schriftstellerin ist kleinkarierte Gehässigkeit und Wirklichkeitsferne gemeinsam. Läßt sich erraten, was die Verfasser bewegt? Schlichter Literatenneid der Kleingeister auf eine erfolgreiche Schriftstellerin, wobei ideologische und moralistische Waffen bevorzugt werden, etwa so, wie einst Menzel und Börne gegen den „Fürstenknecht“ Goethe wetterten? Oder ist es ein fanatischer Antikommunismus? Er ist besonders ausgeprägt bei denen, die früher eine „realsozialistische“ Parteischulung erfuhren und sich für immer an die zweidimensionale Weltauffassung gewöhnten: „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns - tertium non datur“. In ebendiesem Ungeist heißt es heute, daß, was früher gelobt und bewundert wurde, nun verpönt und verdammt werden soll. Das erlebe ich manchmal auch bei meinen „umbekehrten“ Landsleuten, die die gegenwärtige russische Literatur exakt halbieren zu können meinen: in die offizielle korrumpierte, angepaßte oder in die oppositionelle, freie, unabhängige. Sie können nicht erklären, warum Alexander Twardowskij, der große Dichter, der „Entdecker“ und Förderer von Solschenizyn, gleichzeitig Chefredakteur einer bedeutenden Monatsschrift war und bis zum letzten Lebenstag auch ein überzeugter Kommunist blieb, oder warum Boris Pasternak in den schlimmsten Zeiten des stalinistischen Terrors aufrichtig patriotische Gedichte verfaßte und erst im Chruschtschowschen „Tauwetter“ wegen seines Nobelpreises gehetzt wurde.
Jetzt in Deutschland, in den heftigen Debatten um die Wiedervereinigung, greifen die Verfechter eines möglichst schnellen Anschlusses „nach Paragraph 23“ zu den altbewährten fundamentalistischen Waffen. Für die Radikalsten gibt es östlich der Elbe immer noch „die Zone“ oder die „DDR“ (in Anführungszeichen!). „Was kann von Nazareth Gutes kommen?“ Das Leben und das Werk von Christa Wolf ist ein anstößiges Hindernis für die Verkünder des Schlachtrufes: „Freiheit statt Sozialismus“.
Die eifrigen Kritiker, die sich, aus welchen Motiven auch immer, plötzlich darum bemühen, Christa Wolf als „systemkonform“ abzuwerten, werden bewußt oder vielleicht auch unbewußt zu Verbündeten der ewig Vorgestrigen. Sie verstoßen gegen die Wahrheit in der Darstellung der Persönlichkeit und des Werks von Christa Wolf, wobei sie das wirkliche Verhältnis von Staatsmacht und Geistesleben der Nation, von Parteiideologie und Literatur nicht wahrhaben wollen. In der DDR, ebenso wie in allen totalitär oder autoritär regierten Ländern, entwickelten sich Dichtung und Kunst letztlich unabhängig von Staatspolitik und herrschender Ideologie. Despoten können Dichter zugrunde richten, aber keine Dichtung schaffen.
Tragisch waren die Schicksale der Poeten, die sich von militanten Ideologien verführen ließen - wie Majakowskij oder Brecht -, doch tragische Schuld steht im Gegensatz zu Korrumpiertheit oder sklavischem Gehorsam.
Die Verbrechen Stalins, Hitlers und ihrer Helfershelfer sind vergleichbar, aber die Anhänger dieser gemeinen Völkerverführer unterscheiden sich grundsätzlich. Wer sich zum Programm von Knechtung und Vernichtung „minderwertiger“ Völker und Rassen, zum chauvinistischen Menschenhaß bekannte, war grundsätzlich anders motiviert als die, die glaubten, daß sie sich für Freiheit und Gleichheit aller Menschen, für alle Unterdrückten und Ausgebeuteten, für die Gerechtigkeit und die Verbrüderung aller Völker auf Erden einsetzen.
Die Verirrungen eines Hanns Johst, der von Goebbels zum Präsidenten der Reichsschrifttumskammer eingesetzt wurde, sind mit den Verirrungen von Bertolt Brecht, dem Ulbricht das Leben oft vergällte, nicht vergleichbar. Thomas Mann hat über alle deutschen Autoren bitter geurteilt, die nicht emigriert waren und keinen Widerstand geleistet hatten. Der große Dichter war über die Greuel der Nazizeit so entsetzt, daß er im polemischen Eifer zu scharf oder auch ungerecht urteilte. Seine heutigen Nacheiferer möchten alle Autoren der DDR, die nicht eingesperrt, nicht geflohen und nicht ausgebürgert waren, als privilegierte Stützen des Systems denunzieren. Diese Beschuldigungen sind in den meisten Fällen falsch, doch im „Fall Christa Wolf“ sind alle politischen und moralischen Anklagen nichts als Auswüchse böswilliger Phantasie. Das kann ich mit bestem Wissen und Gewissen behaupten, weil ich mit Christa und Gerhard Wolf seit einem Vierteljahrhundert befreundet bin und aufmerksam lese, was von ihnen im Druck erscheint. Aus ihren Briefen in unseren schwersten Jahren hielten sie zu meiner Frau und mir -, aus Berichten gemeinsamer Freunde weiß ich, was sie bei bitteren Auseinandersetzungen im Schriftstellerverband, mit der Zensur, mit Staats- und Parteiinstanzen erleiden mußten.
Immer wieder wurden der Autorin des Nachdenkens über Christa K., Kindheitsmuster, Kassandra und anderer Arbeiten von offiziellen giftsprühenden Kritikern alle möglichen ideologischen Laster unterstellt. Auch von wohlorganisierten „klassenbewußten“ Lesern wurde sie öffentlich angepöbelt. Dies alles ertrug sie gelassen, ohne jemals ihre „Fehler zu gestehen und zu bereuen“, wie es von der Führung stets verlangt und von einigen Autoren auch erzwungen wurde. Was ihre Gelassenheit, ihr unaffektiert würdevoller, stiller Widerstand ihr an Kräften abverlangte, können vielleicht ihre Kardiologen beurteilen. Doch jeder unvoreingenommene Leser kann aus ihren epischen Werken, aus ihren Essays und Vorträgen erkennen, wie hart sie mit sich selbst ins Gericht ging mit ihrer früheren und neueren Vergangenheit.
In einer Diskussion im Mai 1983 erinnerte sie sich an ihre Studienzeit in Leipzig (1949-1953): „Die Germanistik und die marxistische Philosophie - das letztere möchte ich nicht missen - haben damals in ihrer ziemlich dogmatischen Weise meinen Schreibanfang um Jahre verzögert. Weil sie mir meine Unmittelbarkeit des Erlebens genommen haben. Das ist eigentlich erst mit Christa T. wieder aufgebrochen. Im Geteilten Himmel fängt es an, aber der wirkliche Aufbruch, wo die Dämme brechen, war bei Christa T.“
Sie hat auch die weiter zurückliegenden, historischen Quellen der tragischen Verschuldung ihrer eigenen persönlichen - und ihrer Zeitgenossen nachvollzogen, publizistisch erörtert und künstlerisch (zum Beispiel in Kindheitsmuster) dargestellt.
In einem öffentlichen Gespräch im Juni 1987 erklärte sie: „Meine Generation hat früh eine Ideologie gegen eine andere ausgetauscht, sie ist spät, zögernd, teilweise gar nicht erwachsen geworden, will sagen, reif, autonom. Daher kommen ihre - unsere Schwierigkeiten mit den Jüngeren. Da ist eine große Unsicherheit, weil die eigene Ablösung von ideologischen Setzungen, intensiven Bindungen an festgelegte Strukturen so wenig gelungen ist, die Jungen so wenig selbständiges Denken und Handeln sehen und daher keine Leitfiguren finden, auf die sie sich verlassen können. So holt uns, im Verhältnis zu den Jungen, unsere nicht genügend verarbeitete Kindheit wieder ein.“
Christa Wolfs Romane, Erzählungen, Essays gehören zu den bedeutendsten und schönsten Werken der gegenwärtigen Weltliteratur. Über den ästhetischen Wert mögen Literaturkritiker, wie üblich, verschiedener Meinung sein, über ihre Äußerungen zu historischen, sozialen und politischen Problemen kann man diskutieren, aber die moralische Integrität von Christa und Gerhard Wolf ist unabstreitbar.
Lew Kopelew, Kiew, 9. Juni 1990
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