: „So wurden die Deutschen betrogen, immer wieder...“
■ Die Odyssee eines Rußlanddeutschen / Hugo Jedig war Kommunist und Patriot / Er hat Krieg, Deportation und Zwangsarbeit überlebt / Bis zur Emigration in die Bundesrepublik war er Professor für deutsche Sprache in Omsk / „Man wird sehr müde, und die Wolgarepublik bekommen wir auch nicht“
Mein Vater war Bauer und Schullehrer und ging 1910 von der Ukraine weg, um in Sibirien Land zu suchen. Da wurde ich 1920 geboren, in Darmstadt. Ich kann mich noch an die langen Züge erinnern, die da durchfuhren und an die hohe Türschwelle, weil ich so klein war. Dann kam dort die Front hin, es war ja Bürgerkrieg zwischen den Weißen und den Roten. Die Roten haben die Kirche verbrannt, das war schlimm, wir waren ja alle gläubig. Wir sind wieder zurück in die Ukraine, und dort mußte ich noch einmal geboren werden, weil in der Kirche alle Papiere verbrannt sind.
In der Ukraine bin ich dann aufgewachsen und bin dort in der deutschen Grundschule gewesen. Wir hatten zwei Pferde, Kühe und Schweine. Wir hatten alles zu essen, was wir brauchten. Ich kann mich gut erinnern an diese Zeit vor der Kollektivierung. Es war eine sehr gute Zeit. Später kam ich in eine Schule, die der Vater hat bezahlen müssen, es war ein Internat. Geld hat er nicht geben können, wir waren zehn Kinder. Meine Ausbildung hat viele Säcke Mehl und Grütze gekostet. Das ging so bis 1937, ich wollte aber weiter lernen, also mußte ich weg aus der Ukraine, wegen der Sprache. Alle deutschen Schulen außerhalb der Wolgarepublik wurden geschlossen, wir sollten nur noch russisch sprechen.Deshalb bin ich an die Wolga gegangen. Dort lebte mein Bruder. Er gab mir Essen, und mehr brauchte ich ja nicht. So habe ich dann dort studieren können, Pädagogik in Marxstadt und das war gut.
Wir haben ja so geglaubt, an die Kommunisten, an Stalin, alle Leute an der Wolga haben geglaubt. Wir waren Kommunisten, nicht alle in der Partei, aber mindestens im Komsomol. Das Leben wurde aber schwerer, wir bekamen schlechte Nachrichten von zu Hause. Viele wurden in der Ukraine gefangengenommen, und die Kontrolle an der Wolga wurde größer. Dann kam der Finnische Krieg und wir mußten die Lehrer ersetzen, die an die Front kamen. Ein halbes Jahr habe ich an der Schule gearbeitet und später ging ich als revolutionärer Kämpfer zu einer Zeitung. Zu den 'Neuesten Nachrichten der Wolgarepublik‘. Die war in Engels.
Und dann kam der Krieg. Das haben wir noch geschrieben, aber dann gemeint, jetzt müssen wir an die Front. Als Korrespondent oder Übersetzer. Eine Gruppe hat man zusammengenommen und hat uns weggefahren von der Wolga, etwa 70 oder 80 Kilometer in eine andere Stadt. Dort wurden wir aufgehalten und standen zehn Tage so herum. Dann hieß es, jetzt zurück, das war für uns das Anzeichen, daß die Deutschen kommen. Wir kamen dann zurück an die Wolga, und ich ging zu einer Kantonszeitung nach Gnadenfluhr. Da habe ich dann gearbeitet bis 9.August 1941.
Und dann kam es. Plötzlich. Über Nacht. Es war ein Sonnabend. Sie haben gesagt, einen Tag habt ihr zur Vorbereitung, morgen geht es los. Ihr werdet alle ausgesiedelt. Was dann los war, das kann man sich vorstellen. Da hat ja alles durcheinander geschrieen. Mitnehmen durfte man nun ein klein bißchen, um sich zu ernähren. Wir wußten ja nicht wohin. Wir kamen an eine Bahnstation, und am 25.August ging es nach Süden, mit all den Deutschen, den vielen, vielen Wolgadeutschen. So kam ich in das Altai-Gebiet. Ich habe mich sehr gewundert, wir dachten ja nicht, daß es so weit wäre. Wir wurden empfangen von der Kommandantur, und alles war schon vorbereitet. Das war der 25.Oktober. Die haben nur auf uns gewartet, auf uns Aussiedler. Damit war klar, die Vertreibung der Wolgadeutschen war eine vorbereitete Aktion, die wußten genau, wie viele wir sind. Später habe ich erfahren, daß es Listen gegeben hat.
Wir haben als Feldarbeiter gearbeitet, bis zum Dezember. Für mich war das nichts Neues. Aber dann hieß es schon wieder: Ihr müßt fort, an die Front, in die russische Armee. Das war es eben. Wir Wolgadeutschen waren loyal zur Sowjetunion. Wir wären gerne in die Rote Armee gegangen, es war für uns kein Problem, gegen die anderen Deutschen zu kämpfen. Wir waren ja sozialistisch und für Thälmann. Wir kämpfen gerne für Thälmann, haben wir gesagt, für das deutsche Proletariat, nur eben auf der russischen Seite. Aber der Fehler war ein anderer. Es hieß ja, der Krieg dauert nur bis zum nächsten Frühjahr. Die Leute haben nichts mitgenommen. Sie hatten ihre sogenannten Filzstiefel und sonst keine Schuhe mit. Wir ahnten erst, wohin wir kommen, als wir die Viehwaggons sahen. Da wußten wir, daß es nicht an die Front ging.
In den Zügen fuhren wir etwa 15 Tage, bis zum Ural. Da wurden wir ausgeladen, in Solikamsk. Also die einen waren ja für den Winter gut ausgerüstet, aber wir jüngeren Kerle, die allein waren und nichts bei sich hatten, nur gewöhnliche Hosen und Strümpfe und jetzt 150 Kilometer zu Fuß gehen sollten und das bei einer Kälte von 40 Grad, wir sind ganz schön gesprungen, um schnell anzukommen. Das war ein Schmerz. Zweieinhalb Tage sind wir so herumgewandert. Und so kamen wir hin in ein Lager. Da haben die Letten eingesessen, die deportierten Letten, aber als wir ankamen, waren von den 1.200 Letten nur noch zwei lebendig. Alle anderen waren tot. Die waren nicht so sehr gewöhnt an Hunger und Kälte. Wir bekamen dann alles, was im Lager noch war, vor allem Spaten. Da haben die Deutschen sehr geflucht, Himmeldonnerwetter, warum bringt man uns hier in ein Lager, wo wir doch gar nichts verbrochen haben. Gut, wir hätten ja noch verstanden, wenn wir nach Sibirien gekommen wären, damit es kein Blutvergießen gibt, aber warum in ein Lager. In ein richtiges Lager mit Wachen herum, die haben geschossen.
Wir hatten nichts, keine Matratze, nichts, nur das, was wir auf uns hatten. Gut, man hat uns dann Kleidung gegeben, im Frühling, die russischen Bastschuhe. Die sind im Winter über den Filzstiefeln gut, aber im Frühling hat das gar nichts genützt. Und so kam es dann, daß auch die Deutschen dort alle umgekommen sind. Wir waren ja alle so schwach und die Arbeit so hart. 78 von 1.200 sind geblieben, bis zum nächsten Herbst.
Und so wurde gesagt, das Lager muß freigemacht werden, für andere, ihr kommt alle weg. Wir kamen aber nicht alle weg, sondern zu uns kamen Deutsche aus Sibirien. Die hatte man gebracht aus dem Wald von Kamsk. Es kamen viele, denn Platz war da, wir waren ja so dünn. Die neu kamen, waren nicht so verhungert wie wir, und das war auch nicht gut, denn so ging es weiter mit der Arbeit, wir haben immer Holz gemacht.
So ging es bis nach dem Krieg. Wir dachten, jetzt können wir endlich nach Hause. Aber so kam es gar nicht. Erst ab 1947 wurden welche rausgelassen, aber nur, wenn sie beweisen konnten, wo und welche Verwandten wo sind. Aber das wußten wir doch nicht, alle waren ja deportiert worden. Ich bin rausgekommen, weil ich eine Schwester hatte, die in einem anderen Lager war. Die hatte Verbindung mit dem Roten Kreuz. Sie waren aus der Ukraine nach Deutschland gekommen.
Nach dem Krieg hieß es von den Russen, ihr kommt jetzt alle wieder nach Hause, wir haben gesiegt. Da haben sich alle gefreut. Nach Hause, nach Hause hieß es. Aber es ging gar nicht nach Hause, sondern an der Heimat vorbei. An der russischen Grenze wurden die Eisenbahnwaggons versperrt, und alle Ukrainer kamen nach Sibirien. Meine Mutter kam nach Tomsk. So wurden die Deutschen immer betrogen, immer wieder.
Und ich kam so nach Tomsk und habe dort gearbeitet, an einer Hochschule. Das war eine Ausnahme, denn die Deutschen sollten Wassergräben ziehen, Leitungen legen oder Holz hacken. So habe ich mich in Tomsk bis 1956 herumgedrückt und war schon wieder ein bißchen patriotisch, denn von der Kommandaturüberwachung waren wir seit einem Jahr befreit. Wir haben dann Briefe geschrieben und gefragt, wann wir denn wieder nach Hause können, an die Wolga, denn das war ja unsere Republik. Wenn wir die Wolga wieder haben, wird alles gut, haben wir gedacht. Und solange wir auf die Erlaubnis warteten, habe ich gearbeitet, immer gearbeitet, als Externer in Moskau promoviert und habilitiert, in russischer Sprache, am Institut für Sprachwissenschaft. Das hat viel Nerven gekostet und hat lange gedauert. Später wurde ich Lehrstuhlleiter in Omsk und habe die deutschen Mundarten in Rußland studiert. Bis zu meinem Ende, bis ich herausgefahren bin in die Bundesrepublik vor drei Jahren.
Ich hätte gerne weitergearbeitet, bis man mich mit den Füßen voran aus der Universität trägt. Aber immer hat man mir Vorwürfe gemacht und die Arbeit behindert, meine Promoventen abgelehnt und die Forschungsreisen von der Staatssicherheit überwacht. Da wird man müde, sehr müde, und die Wolgarepublik bekommen wir auch nicht.
Anita Kugler führte das Gespräch mit Hugo Jedig in Kassel
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