Die Nacht der Taschendiebe

■ Vor der Deutschen Bank am Alex hatten Diebe Hochkonjunktur / Die Polizei war schlicht überfordert

Mitte. Kurz nach 24 Uhr hält die Glasscheibe zwischen den geldwollenden Massen und den geldauszahlenden Angestellten der Deutschen Bank dem Druck des Volkes nicht mehr stand. Sie splittert, eine Frau fällt in Ohnmacht, über die Köpfe hinweg, wird sie zum Notarztwagen weitergereicht. Blaulicht der Krankenwagen, Sirenen der Polizei, hupende Westautos mit DDR-Kennzeichen und rausgehängter BRD-Fahne, und ein einig Volk: „Wir wollen rein“. Hysterie bei den in die Bank Drängelnden, ein kollektiver Rausch, alle Hemmungen sind weggeschwemmt durch Aussicht auf „echtes“ Geld. Die Nacht zum 1. Juli ist eine Nacht der Rücksichtslosigkeit, nur Idioten stellen sich an - von denen gibt es viele. Die Warteschlange kringelt sich vom Alexanderplatz vorbei in die Karl-Liebknecht-Straße bis zur Wadzeckstraße. Alle wollen Geld, money, cash, und vielen dauert der Umweg über den Umtauschantrag zum Bankauszahlungstresen zu lang. Selbstbedienung ist angesagt. Die Volkspolizei fährt auf, „bitte achten Sie auf ihre Handtaschen“. Zu spät die Warnung, das Portemonnaie der taz-Redakteurin ist weg, der Reißverschluß der Handtasche aufgerissen, ein Opfer mehr in der nächtlichen Ellbogengesellschaft. „Jeder-ist-sich-selbst -der-nächste“.

Die Volkspolizeiinspektion Berlin Mitte, 500 Meter vom Schauplatz Alexanderplatz entfernt, hat sich auf die Nacht des Anschlusses gut vorbereitet. Urlaubssperre war angesagt. Ein großer Packen vorbereitete „Verlustanzeigen“ für „Geldbörsen“ liegt im kasernenmäßig eingerichteten Warteraum zur Ausfüllung bereit. Wie, wo, wann haben Sie den Verlust bemerkt, welche Papiere vermissen Sie? Natürlich alle!

Für Mitleid haben die VP-Angehörigen keine Zeit, zu viel ist zu tun. Die Türschelle schrillt ununterbrochen, jede 30 Sekunden ein neuer Empörter, „mein Geld ist geklaut worden, vor der Deutschen Bank, Sauerei, was macht eigentlich die Polizei...“ Eine Volkspolizistin ist völlig überfordert, „ja, warum nehmen Sie denn Geld mit, da stehen doch nur welche, die welches haben wollen“. Wie wahr und hilfreich.

Zwischen den Ausgeplünderten stellt sich keine Schicksalsgemeinschaft her, natürlich ist jeder Fall ein besonderer. Rund 30 besondere Fälle sitzen herum, kauen auf den Kugelschreibern und haben Wut im Bauch. Glaubt man ihnen, dann haben alle ein komplettes Westmonatsgehalt dabeigehabt, ganz zu schweigen von den Kraftfahrzeugscheinen für nagelneue Mercedes-Benz und Audis. Dem einen wurde die Geldbörse aus der Gesäßtasche entwendet, dem zweiten gleich das ganze Jackett von den Schultern gerissen, der dritten die Handtasche vom Riemen geschnitten, der vierten, fünften, sechsten schlicht das Portemonnaie geraubt.

Und wieder schrillt die Eingangsglocke. Fünf wirklich besondere Fälle drängeln sich zum Abfertigungsschalter. „Is someone here, who speaks English?“ Ein Fernsehteam aus Japan scheint en bloc enteignet worden zu sein. Aber nein, Lokalkolorit soll eingefangen werden, die Empörung über die Drittweltzustände in der Metropole Berlin auch in Tokio geteilt werden. Das geht der wachhabenden Volkspolizistin aber nun doch zu weit, da regt sich noch ein bißchen DDR -Patriotismus. „Heute ist Ausnahmezustand“, begründet sie das Filmverbot, und ohne Erlaubnis des Chefs geht das sowieso nicht. Aber der herbeitelefonierte Vorgesetzte fällt ihr in den Rücken. „Leider hat sich unsere Befürchtung bestätigt“, läßt er ins Englische übersetzen, die „Kriminalitätsrate ist seit vergangenen November explodiert, während die Aufklärungsrate gleichzeitig gesunken ist“.

Anita Kugler