: Alte Menschen hinter bröckelnden Fassaden
■ Im streng bewachten DDR-Grenzgebiet wurde jahrelang in einem baufälligen Feierabendheim ein isoliertes Leben geführt
Klein-Glienicke - ein Ortsteil von Babelsberg, der als DDR -Enklave auf dem Stadtplan mit zwei Nasen vorwitzig in den westlichen Teil Berlins ragt. Die Mikroversion der gesamten politischen Schizophrenie mutet an wie die DDR unter einem Vergrößerungsglas. Nur eine einzige Brücke führte in dieses unter schärfster Bewachung liegende Territorium. Ein Ort unter Denkmalschutz, 1,6 Kilometer lang, 400 Einwohner, eine Post, Fleischer und ein Konsum. Wer dort wohnte, erhielt Besuch nur nach vorheriger Anmeldung bei den Grenztruppen. Die Beantragung eines Passierscheins dauerte sechs Wochen und wurde durchaus nicht immmer positiv entschieden. Selbst inzwischen erwachsene Kinder, die in Klein-Glienicke groß geworden waren, mußten sich der gleichen Prozedur unterziehen, wenn sie, erst einmal weggezogen, ihre Eltern besuchen wollten. Das Leben vollzog sich stets unter den wachsamen Augen von Grenzsoldaten, und selbst noch in den siebziger Jahren mußten alteingesessene Bewohner ihre Häuser räumen, weil diese zu dicht an der Grenze standen.
Um so verwunderlicher nimmt sich der Umstand aus, daß sich ausgerechnet in diesem schwerbewachten Wurmfortsatz der DDR ein Altenheim befindet. Das Feierabend- und Pflegeheim Klein -Glienicke wurde 1952 in einem Gebäude eingerichtet, das zu dem Areal des Jagdschlosses Glienicke gehörte. Seine Grundsteinlegung geht auf das Jahr 1832 zurück. Die Zustände ähneln mehr oder minder allen Feierabendheimen in der DDR, die in Altbauten eingerichtet wurden. Die sanitären und technischen Bedingungen sind katastrophal unzureichend oder hoffnungslos veraltet. Einen Aufzug gibt es nicht, doch dafür mehr als genug steile Treppen. Die 86 betagten BewohnerInnen leben überwiegend zu zweit, manche müssen aber auch zu dritt oder gar zu viert einen Raum bewohnen. Auf der Pflegestation gibt es bis heute keine Notruf-Klingel. Keines der Zimmer verfügt über eigene Waschbecken, und es sind insgesamt auch nur zwei Waschräume und zwei Badewannen vorhanden. Die Toiletten reichen ebenfalls nicht aus, die überalterten Abflußrohre sind verrottet und ständig verstopft. Darüber tröstet wenig hinweg, daß die Schwestern den alten Menschen viel Zuwendung angedeihen lassen und die Atmosphäre so gemütlich wie möglich gestalten. In Klein -Glienicke kommt hinzu, daß notwendige Handwerksarbeiten wesentlich komplizierter zu realisieren waren als anderswo. Wenn wirklich einmal eine Reparatur unumgänglich war, wurden die Handwerker bei ihrer Arbeit und selbst bei einem Gang zum Konsum von Posten begleitet, die sie mit Maschinenpistolen ständig überwachten.
Wesentlich tragischer nimmt sich dagegen die Tatsache aus, daß selbst in Notfällen kein Arzt oder Krankentransport, der nicht über einen Dauerpassierschein verfügte, die schmale Brücke nach Klein-Glienicke passieren durfte. Waren die wenigen damit ausgestatteten Ärzte gerade unterwegs, mußte man im Feierabendheim eben warten. Ähnlich verhielt es sich, wenn Kinder ihre Eltern auf Grund eines Notfalls kurzfristig besuchen wollten. Weiter als bis zur Brücke durfte ohne vorherige sechswöchige Anmeldung niemand. Erst in den letzten Jahren machte es die seit sechs Jahren amtierende Heimleiterin Ursula Manzl zur Bedingung für eine Einweisung in das Heim, daß für die Kinder Dauerpassierscheine beantragt wurden. Die regelmäßige Verlängerung übernahm sie vorsichtshalber gleich selbst.
Inzwischen ist sie manchmal fast geneigt, sich die Zeiten der absoluten Isolierung zurückzuwünschen. Der Ort hat seine Ummauerung verloren, Fremde spazieren jeden Tag hindurch, und man muß, wenn man das Haus verläßt, die Tür doch besser abschließen. Auch für das Altenheim verändert sich einiges. Der beklagenswerte Zustand des Heimes, der sich schon an der bröckelnden Außenfassade ablesen läßt, löste im benachbarten Bezirk Zehlendorf eine Spendenaktion aus. Heute wird die Spende in Höhe von 15.000 DM vom Zehlendorfer Stadtrat Schmidt an das Heim übergeben. Für großangelegte Sanierungen reicht dieses Geld nicht. Immerhin kann man sich aber dafür schon den lange gehegten Traum erfüllen, zwei Duschkabinen zu kaufen und einen Badelifter anzuschaffen, womit bettlägerige alte Menschen wie mit einem Kran in die Badewanne gehoben werden können. Da vom Rat der Stadt Potsdam wenig Geld zu erwarten ist, wird diese Spende von den Mitarbeitern und Bewohnern des Heimes gerne angenommen.
Markstein
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