: Immer für Marktwirtschaft
■ Der aus der KPdSU ausgetretene Vorsitzende des Leningrader Sowjet Anatolij Sobtschak über die Zukunft der Region
INTERVIEW
Anatolij Sobtschak ist ein rasanter Aufstieg an die Spitze der sowjetischen Politiker gelungen. Bei den Wahlen der Volksdeputierten der UdSSR bekam der ehemalige Professor und erfahrene Jurist eine überzeugende Mehrheit. Sein beeindruckendes Rednertalent lenkten im Obersten Sowjet schon sehr bald die Aufmerksamkeit auf ihn.
Im Frühling dieses Jahres wurde Anatolij Sobtschak zum Volksdeputierten im Leningrader Sowjet und mit großer Mehrheit (223 zu 93) zu dessen Vorsitzenden gewählt. In seinem Programm fordert er Marktwirtschaft, ein Mehrparteiensystem, einen politischen Sonderstatus für Leningrad und die Umstrukturierung der Leningrader Region zu einer freien Wirtschaftszone. Die Unabhängigkeit Leningrads von Moskau, die Gründung des Baltischen Marktes (Litauen, Estland, Lettland und Leningrader Region) sind das ehrgeizige Ziel.
Weil seine Ansichten in vielen Punkten nicht der Politik Gorbatschows und des ZK entsprechen, wurde er nach seiner Wahl oft gefragt, warum er nicht aus der Partei austritt. Seine Antwort damals: „Ich warte auf den 28. Parteitag.“ Wenn die Mitglieder der 'Demokratischen Plattform in der KPdSU‘ es nicht schaffen, die Macht an sich zu ziehen, werde ich, genauso wie andere, aus der Partei austreten.“
Nun ist der 28. Parteitag zu Ende. Gorbatschow wurde erneut zum Generalsekretär gewählt (was übrigens niemand in der Sowjetunion erwartet hat), A. Jelzin, A. Sobtschak und viele andere Befürworter demokratischer Veränderungen sind aus der KP ausgetreten. Somit hat der Leningrader Sowjet zum ersten Mal in seiner Geschichte einen parteilosen Vorsitzenden. Die Politik der Leningrader Regierung unterscheidet sich immer mehr von der Politik des Kremls.
taz: Worin besteht die Besonderheit des Leningrader Parlaments?
Anatolij Sobtschak: Das Leningrader Parlament ist heute das demokratischste im Land. (70 Prozent der Deputierten sind Vertreter des Parteiblockes „Demokratische Wahlen - 90“, der aus der „Leningrader Volksfront“, der Partei „Demokratische Allianz“, der „Demokratischen Plattform in der KPdSU“ und anderen besteht. 20 Prozent der Abgeordneten definieren ihre politische Orientierung nicht und nur zehn Prozent vertreten den Parteiapparat.) Es ist in der Tat ein richtiges städtisches Vielparteienparlament.
In der offiziellen Presse wird Ihnen vorgeworfen, daß der Leningrader Sowjet nur reden und wenig handeln würde.
Diese Kritik ist einfach daneben. Der ganze Sinn der parlamentarischen Arbeit besteht doch darin, daß alle Probleme einer Stadt, genauso wie das Anliegen eines Staates öffentlich besprochen und entschieden werden. Die eigentlichen Schwierigkeiten bei der Arbeit des Leningrader Sowjets bestehen darin, daß in ihm mehrere politische Gruppierungen vertreten sind, die sich noch nicht entgültig organisatorisch und politisch herausgebildet haben. Die größte Schwäche liegt aber in der fehlenden politischen Erfahrung der meisten Abgeordneten. Über 90 Prozent aller Deputierten haben sich früher nie politisch betätigt.
Wie sehen Sie die weitere Arbeit des Leningrader Parlaments?
Es wurden bereits ständige parlamentarische Kommissionen gebildet. Hervorheben möchte ich die Kommissionen für ökonomische Reformen, für Konversion der Militärindustrie (zwei Drittel der Leningrader Betriebe arbeiten im Militärbereich), für Offenheit und Menschenrechte, gegen soziale Probleme und andere. Wie werden auch einige Mitarbeiter der alten Administration ersetzen, was jedoch nicht heißt, daß wir alle entlassen, da es unter ihnen viele kluge Leute und gute Arbeiter gibt.
Wann könnte, Ihrer Meinung nach, die Leningrader Region zur freien Wirtschaftszone werden?
Ich will hoffen, daß das schon in diesem Jahr möglich sein wird.
Könnte unsere Stadt dem Weltmarkt schon heute etwas bieten?
Unter den Bedingungen der freien Marktwirtschaft erscheint mir in Leningrad die Entwicklung vor allem im Schiffsbau und in der Weltraumindustrie möglich. Es ist doch kein Geheimnis, daß viele Betriebe der Stadt an Weltraumprogrammen arbeiten und ihre Produkte auf dem Weltmarkt schon heute einen schnellen Absatz fänden. In Bezug auf die Förderung des Tourismus bedarf es keiner ausführlichen Schilderung, was Leningrad ist. Und natürlich die Wissenschaft! Die Leningrader Wissenschaftler: Mathematiker, Plasmaphysiker, Neurochirurgen und viele andere sind heute auf der ganzen Welt berühmt. Und die Stadt wird gar nicht lange brauchen, um ein bedeutendes Zentrum der Wissenschaft zu werden. Hauptsache - man stört uns nicht.
Wird es in diesem Zusammenhang Konflikte zwischen Ihnen und dem ZK der KPdSU oder der Leningrader Parteiorganisation mit Boris Disaspov an der Spitze geben?
Natürlich möchte ich hoffen, daß sie zu vermeiden sind. Aber ich fürchte, daß es Konflikte geben wird, obwohl ich ein friedlicher Mensch bin und einen friedlichen Weg auf der Suche nach der einzig richtigen Lösung bevorzuge.
Würde Leningrad direkte wirtschaftliche und politische Beziehungen mit den baltischen Republiken unterhalten, unabhängig von den jeweiligen Beschlüssen der Landesregierung?
Unbedingt! In Übereinstimmung mit den neuen Gesetzen über Selbstverwaltung und Wirtschaft vor Ort, dem Gesetz über die ökonomische Selbständigkeit der baltischen Republiken und, wie ich hoffe, dem bald erscheinenden Gesetz über die Schaffung einer freien Wirtschaftszone in der Leningrader Region werden wir solche Beziehungen anstreben. Wir haben auch ein Recht dazu.
Wie bewerten Sie als Jurist die Wirtschaftsblockade Litauens?
Eine politisch und ökonomisch merkwürdige Situation! Auf einmal wird die Wirtschaftsblockade über ein Teil des eigenen Territoriums verhängt (die Regierung hat ja die Unabhängigkeit Litauens nicht anerkannt), wobei diese Entscheidung ohne den Obersten Sowjet gefällt wurde, was wiederum eine grobe Verletzung der Verfassung und der Rechte des Obersten Sowjets war. Positive Resultate können nicht durch eine Blockade erzielt werden. Die einzige Möglichkeit, etwas zu erreichen, besteht darin, sich am Verhandlungstisch zu treffen. Haben wir denn gar nichts aus den Ereignissen in Berg-Karabach gelernt? Vor zweieinhalb Jahren bestand die ideale Möglichkeit, dieses Problem an der Wurzel zu packen. Und alle Seiten wären dazu bereit gewesen, weil sie noch nicht durch Blutvergießen getrennt waren. Heute haben ganze Völker, als Resultat der kurzsichtigen Politik Moskaus, ihr Gesicht verloren.
In Leningrad und im ganzen Land häufen sich die Fälle der nationalen Konflikte, darunter auch die des Antisemitismus. Sind die Gesetze unwirksam?
Es wäre naiv zu glauben, daß diese Probleme nur mit Hilfe von Gesetzen lösbar wären. Ich glaube, daß wir uns auf die menschlichen und sittlichen Werte zurückbesinnen sollten. Man muß vieles verändern. Wohin wir auch kommen, sei es in Büchereien oder Schulen, werden von uns die Angaben über Nationalität und Abstammung verlangt. Als erster Schritt zur Normalisierung der zwischennationalen Beziehungen werden wir in Leningrad diese beiden Fragen abschaffen.
Wie würden Sie sich selbst definieren?
Ich bin Wissenschaftler. Mein ganzes Leben habe ich mich mit der Wissenschaft und dem Unterrichten beschäftigt. Den Schwerpunkt meiner Untersuchungen bildeten die rechtlichen Aspekte der Wirtschaft. Bereits in den 60er Jahren veröffentlichte ich eine Reihe von Arbeiten, deren Thema die Marktwirtschaft war. Ich habe schon immer die Marktwirtschaft befürwortet und meine, daß es keinen anderen Weg für unser Land gibt. Wenn wir diesen Weg etwas früher eingeschlagen hätten, würden wir heute nicht unter solch ökonomischen Problemen leiden. Unser Land ist doch eines der reichsten. Und alle unsere Probleme entstehen aufgrund unserer Unorganisiertheit.
Interview: Maksim Korzov; Übersetzung: Irene Belikowa
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