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Kohl ist ein schlechter Filmemacher

■ Ein Gespräch mit Vilem Flusser über Gott, Klebstoff, China und ganz viel mehr

Freitag nachmittag: D.W.: Herr Flusser, ich würde gern für 'die tageszeitung‘ ein Interview mit Ihnen machen?

V.F.: Eine ausgezeichnete Idee!

Wir verabredeten uns für Sonntag, 8.30 Uhr, zu einem „kargen Frühstück, damit der Geist nicht vorzeitig erschlafft“. Herr Flusser und seine Frau waren schon sehr wach um 8.30 Uhr, und gute Serviererinnen-Feen brachten Kaffee und Wurst und Brot. Gegen 9.15 Uhr trat Peter Lilienthal in den sachlich eingerichteten Raum und entschuldigte sich (eigentlich grundlos) er habe verschlafen.

F.: Haben Sie Samstag das große Medienspektakel beobachtet?

A.: Ich habe nichts gesehen, es war hier eine Vorführung von einem Godard-Film, und dann war eine sehr interessante Diskussion - und ich hab‘ überhaupt nichts zur Kenntnis genommen - ich hab nur so ein Brüllen gehört, und dann haben wir die Türen zugemacht! Aber ich hab‘ weiter davon gehört, daß eine Milliarde Menschen - und so weiter. Wissen Sie, ab einer bestimmten Anzahl von Nullen interessiert mich die Sache nicht mehr! Es stellte sich heraus, daß man eine Einstellung zum Universum nehmen muß, die die Nähe mißt. Man kam irgendwie zurück zum Juden-Christentum: liebe deinen Nächsten! Und nicht: liebe die Menschheit. Man kam darauf, daß es Inseln menschlicher Dimensionen gibt, in denen von Werten geredet werden kann, nehmen wir an, Dinge, die meßbar sind, in Metern und in Dollar und in Stunden: da kann man von Werten sprechen. Aber in dem Moment, wo es um Lichtjahre geht, und um Milliarden von Dollar und um eine Milliarde Menschen, da ist von Werten keine Rede mehr. Das sind entwertete, wertlose Phänomene, die muß man mit einem ganz anderen, epistemologischen Geist angehen. Das gibt Ihnen ja eine Idee, was ich von Massenkommunikation halte!

Zur „Sommerakademie“. Betitelt ist die Veranstaltung „Film und Medien“. Geht es dabei mal wieder um das Verhältnis von „Künstlern und Technikern“?

Ich habe in meinen Schriften immer versucht, entweder das Wort „Kunst“ gar nicht zu verwenden, oder den Sinn wiederzufinden, den das Wort vor der Trennung von der Technik hatte.

Ich habe nicht nach dem Verhältnis von „Kunst und Technik“ gefragt, sondern nach dem Verhältnis von „Künstlern“ und „Technikern“.

Im 19. Jahrhundert war ein Techniker jemand, der eine ganz bestimmte Schulung mitgemacht hatte und dann diese Schulung an irgendwelchen Zeugungen verwirklichte. Ein Künstler war ein Mensch, der außerhalb der Gesellschaft stand, weil er zu nichts gut war. Der entweder von dem lebte, was ihm die Kapitalisten zuwarfen, damit er den Betrieb nicht störte, dafür aber den Damen am Abend irgendwelche Vergnügen bereitete. Oder, wenn er sich nicht als Schoßhund anstellen ließ, machte er Schweinereien und starb an Tuberkulose oder in den Barrikaden, aber war nicht sehr ernst zu nehmen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts wurden zwei Dinge deutlich: daß die Wissenschaft eine Fiktion ist, daß die Hypothesen fiktive sind, und seitdem wurde immer klarer, daß die Wissenschaft eine Kunstform ist. Andererseits wurde immer deutlicher, daß Kunst auf Erkenntnis beruht. Wenn man ein Kunstwerk machen will, muß man über wissenschaftliche Erkenntnisse und technische Geräte verfügen. Also, seit den fünfziger Jahren hat es nur noch für Schöngeister einen Sinn, über Kunst und Künstler zu sprechen. Jeder Mensch, der halbwegs informiert ist, kann darüber nur noch lachen. Das Wort „Kunst“ wurde seitdem immer mehr als Schimpfwort „Artefakt“... Ich glaube, wenn man anständige Menschen Künstler nennt, sind sie beleidigt.

Die Sommerakademie unterscheidet zwischen „Film“ und „Medien“. Im allgemeinen zeichnen sich Filmemacher durch ihre künstlerische Individualität, eine „Handschrift“ aus. Sind Filmemacher also qua Definition konservative Menschen?

Immer, wenn ich mir die Stellung des Filmemachers vorstelle, bin ich von einem Schwindelgefühl erfaßt. Ein Filmemacher ist viel mehr als Gott! Er hat ein Band, darauf sind Szenen, die durch die Geschwindigkeit, mit der das Band vorgeführt wird, Geschichte sind. Also steht der Filmemacher über der Geschichte. Und er hat zwei ganz fürchterliche Werkzeuge: eine Schere und Klebstoff. Die Schere ist das Instrument der Vernunft, der Ratio. Er kann in die Geschichte eingreifen und sie zerschneiden. Das kann Gott nicht! Nicht einmal durch Wunder! Und der Filmemacher kann kleben. Wissen Sie, was Klebstoff ist? Das ist die größte Gemeinheit! Er kann Verbindungen schaffen, die nicht wirklich sind...

Das ist doch gerade das Schöne...

Zum Beispiel Herr Kohl. Jetzt dieses Zusammenkleben von West- und Ostdeutschland!

Ist Kohl ein Filmemacher?

Ja, aber nicht so gewaltig. Kohl ist ein schlechter Filmemacher. Was kann er damit machen? Er kann die Geschichte in einen Kreis umdrehen, er kann Geschichte beschleunigen, verlangsamen. Gott muß vor Neid zerspringen, wenn er einen Filmemacher sieht! Was haben Sie mich noch gleich gefragt?

Ob Filmemacher konservativ sind, weil sie Kunst und Individualität verteidigen müssen.

Dieser Herr da zum Beispiel (Herz Frank betritt den Frühstücksraum der Akademie) ist ein tief religiöser Mensch. In einem seiner Filme sieht man, wie ein junger Mensch und seine Freundin beten. Es ist offensichtlich, daß sie zum Herrn Frank beten. Sie beten zur Kamera, zur „deus ex machina“. Es ist das Medium selbst, das zu dieser übermenschlichen Position führt. Beim Video ist das anders! Wenn Sie Platon als Filmkritiker begreifen - wir sehen doch nur jene Schatten, die der Kreator will.

Der Filmemacher?

Ja, Gott.

Dann ist Gott also doch ein Filmemacher?

Der historische Gott ja, der jüdisch-christliche, ja. Buddha ist kein Filmgott.

Warum ist das beim Video anders?

Ich glaube, wenn wir anfangen, mit Computern Bilder zu machen, stirbt Gott. Denn dann wird ja deutlich, daß die Geschichte eine Illusion ist.

Sie meinen, daß die digitale Bildspeicherung das Ende der kommerziellen Filmindustrie bedeutet?

Es ist das Ende der Geschichte! Post-histoire meint ja vielleicht das. In dem Moment, wo wir das Geschichtsbewußtsein überholen, kann ich mir nicht vorstellen, daß jemand sich etwas anschaut, was Geschichte simuliert. Da wird doch der Film ein Unsinn! Der Film ist ein Produkt des historischen Bewußtseins! Der Clip ist ein Versuch, daraus auszubrechen.

Gibt es etwas, was schon auf das Gelingen dieses Versuchs hinweist?

Ich hab‘ wenig prophetische Gabe. Aber ich kann Ihnen sagen: der Film hat keinen Sinn für jemanden, der das Geschichtsbewußtsein überwunden hat. Natürlich, die meisten Menschen, diese verächtliche Masse mit den vielen Nullen dahinter, die ist vielleicht sogar noch prähistorisch! Dieses Brüllen, was wir gehört haben: das ist doch magisch -zirkulär! Für die gibt es noch keinen Film, für mich gibt es schon keinen Film mehr!

Noch mal zurück zum Unterschied zwischen Filmemacher und Videokünstler...

Sagen Sie nicht Videokünstler, das macht mich nervös!

... also: ist der Videomensch Ihrer Meinung nach allein durch die wahl des Mediums auf einer anderen Bewußtseinsstufe als der Filmemacher?

Ja. Der Videomensch ist auf einer posthistorischen Bewußtseinsstufe, während der chemische Mensch auf einer historischen ist. Sagen wir: Der Grobkörnige und der Feinkörnige. Der Grobkörnige ist ein Historiker, der Feinkörnige ein Strukturalist. Die Telepräsenz ist ja viel gewaltiger als die physische. Haben Sie schon mal über Teleorgasmus nachgedacht? Der Orgasmus hat ja das Malheur, daß er sich erschöpft. Aber der Teleorgasmus, der geistige, ist unerschöpflich. Sie können in einem unerschöpflichen geistigen Schwindel sein.

Gibt es unter den Videomenschen jemand, in dessen Arbeit Sie dieses entwickelte, posthistorische Bewußtsein besonders deutlich ausgeprägt sehen?

Ich bin darauf gekommen, daß erst, wenn Sie mit dem Computer Bilder machen, wenn Sie in einer Gruppe arbeiten, daß Sie dann das Autorenbewußtsein überholen. Erst wenn es notwendig ist, daß Sie einen Mathematiker, einen Soft-Ware -Menschen, einen Philosophen brauchen, erst dann kommt dieser schöpferische Dialog zustande. Erst wenn der Empfänger wieder in das Bild eingreift, im Schneeballeffekt klappt das.

Mit wem arbeiten Sie zur Zeit?

Ich arbeite mit Louis Bec und Paul Virilio; mit dem machen wir eine Videoarbeit in Luxemburg, mit RTL und der Universität Strasbourg und mit der Ecole des Beaux Arts in Aix. Aber wir sind ja über die Namen hinweg. Wir können uns ja noch immer nich gut vorstellen, daß etwas ohne Autor entsteht, weil wir ja noch Bauern sind („cultivare“ das Feld bestellen). Solange wir kausal denken - und es ist sehr schwer, das zu überwinden - wird es uns Autoren geben. Ein Beispiel: Mein Buch Die Schrift, in dem ich schriftlich versuche, die Schrift zu überwinden. Ich war mir dieses Purzelbaumes bewußt und habe deswegen das Buch auch als Diskette herausgegeben. Ich habe auf Kommentare gehofft, die meinem Verleger geschickt werden, daß sehr bald mein eigener Text verschwinden würde und der Schneeballeffekt einen ganz neuen, veränderten Text hervorbringt und selbst ein Autor wird. Hat aber nicht funktioniert.

Warum nicht?

Die Gefahr ist nicht, daß niemand es tut. In Karlsruhe gibt es eine Sache, angeschlossen an das Kernforschungszentrum, es heißt: electronic text manipulation. Die waren sehr beeindruckt von dieser Geschichte und haben ein elektronisches Buch über diesen Text herausgegeben, wo Leute in der ganzen Welt, die mit Kernphysik zu tun haben, hereingeredet haben. Da kam ein anderes Problem: Ich versteh's nicht mehr. Es sind nur noch Formeln, die bei mir ankommen, ich hab‘ keine Ahnung, worum es da geht. Vielleicht ist das gut - ich hab‘ die Sache nicht mehr im Griff!

Dann haben Sie es ja geschafft und die Autorenschaft glücklich überwunden?

Frau Flusser: Wir hatten Texte erwartet.

Stichwort „weltweit“. Sind an dieser Art Textproduktion nicht nur die westlichen Industrienationen beteiligt? Wird sie ethnozentrisch, weil alle anderen Länder, nehmen wir die Phillipinnen beispielsweise, kaum Zugang zu den Computern haben?

Das ist ein Punkt, der mich weniger stört, denn die telepathische Kultur ist nicht okzidental, sondern sie ist zum ersten Mal eine Synthese zwischen Orient und Okzident. Sie ist ein Produkt unserer kalkulatorischen Denkart, andererseits ist sie ein Produkt der orientalischen Miniaturisation. Es ist kein Zufall, daß Japan an der Spitze ist!

Aber Japan ist nicht repräsentativ für die Länder, die ich angesprochen habe.

Ach! Japan ist ja auch nur provisorisch! Es geht ja nach China. China ist der künftige Träger der Sache. Das ist doch nur eine Frage von Jahren, sobald dieser Blödsinn von Kommunismus überwunden ist, wird doch China die Zentralmacht der Welt. Es gibt nur zwei Zivilisationen, die westliche und die östliche. Alles andere sind Kulturen - im angelsächsischen Sinn des Wortes. Wahr ist, daß wir noch nicht begonnen haben, die Potentiale der Kulturen in die Zivilisation hinaufzuheben. Aber Sie können ja nicht verlangen, daß die Sache so schnell geht! Gott sei Dank beginnen wir, die westliche Kultur zu überholen, diese Schweinereien des Westens hinter uns zu bekommen...

Ist nicht der Westen gerade auf einem gigantischen Triumphzug Richtung Osten?

Nein, ich glaube, der Westen triumphiert nicht. Das wird wieder anders.

Das ist doch blanke Kolonisation!

Nein! Wir werden China nicht kolonisieren!

Und Osteuropa?

Aber das ist ja nix! Wenn Sie das von etwas höher betrachten, ist das ja nur ein kleiner Vorgang! Das ist nur, weil wir kurz leben. Zwingen Sie mich nicht zu solchen Flügen!

Was glauben Sie - welche Rolle haben Ihnen die Veranstalter für das Podium heute abend (Sonntag) zugedacht?

Es kommt Sloterdijk, den wollte ich immer schon kennenlernen. Und Bazon Brock, Robert Jungk, ein Mensch mit einem griechischen Vornamen, dann kommt ein Mensch, der hier bei Ihnen in Berlin Professor ist, der hat gestern zwei gescheite Sachen gesagt, der heißt Klemper oder so...

Lilienthal (hinzugetreten): Kamper...

... der hat zwei gescheite Sachen gesagt, hat sie aber nicht zu Ende gedacht. Vielleicht werde ich ihn zwingen, die Dinge zu Ende zu denken...

Und Ihre „Rolle“?

Lilienthal: Lehrer, Prophet.

Sagen Sie das nicht! Ich bin so uninteressant, angesichts der kolossalen, faszinierenden Dinge, die um mich herum geschehen, daß ich keine Zeit verlieren will, über mich nachzudenken. Ich atme nicht gut, ich seh‘ nicht gut, und ich werde alt und impotent, der Körper wird immer wichtiger. Ich versuche, ihn zu ignorieren, und noch viel weniger als mein Körper interessiert mich meine Individualität. Was mich interessiert hat, nach Berlin zu kommen, ist, daß hier das Gegenteil von dem passiert, was man voraussetzt. Hier kommt eine Ballung statt einer Streuung zustande, eine reaktionäre Sache, das interessiert mich.

Das Gespräch führte

Dorothee Wenner

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