: Sowas kommt nie wieder im Leben Mit Heino, Matthias und 3.000 Ostberlinern auf Kaffeefahrt
in die Lippische Schweiz - eine Lamadecke kostenlos, ganz persönlich und ohne Rücktrittsrecht
Von Dietmar Hochmuth
Für die bundesdeutschen Veranstalter von Kaffeefahrten fängt die Revolution erst richtig an. Was mag in den Unternehmern dieser Branche in der Nacht zum 10.November vorgegangen sein? „Grenzenlos günstig“ sind ihre Bedingungen geworden, ein riesiges neues Areal mit neuem Freiwild gilt es zu erschließen - ganze Rudel schlafender Hunde müssen wachgeworden sein bei Schabowskis beiläufigem „Da war doch noch was...„; Einladungen zu „Schlemmen und Genießen nach Herzenslust“, durch Tiefdruckprint veredelt, haben Hochkonjunktur.
Mit der navigatorischen Exaktheit von Fallschirmjägern werden ganze Stadtteile flächendeckend durchkämmt und von bunten Postwurfsendungen heimgesucht. „Verkaufsfahrt, märchenhaft schön. Ein herrlicher Tagesausflug in die sommerliche Lippische Schweiz. Traumhafte Kulisse für das einmalige Stargastspiel von Deutschlands Publikumslieblingen Heino und Hannelore. Volkstümliche Musikanten für Sie unterwegs.“
Abfahrt also 5 Uhr, der Treffpunkt ist keine zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt, doch beim Verlassen des Hauses trifft mich der erste Schlag: Hätte ich nicht gewußt, was da losgehen sollte - ich hätte gedacht, das KKW Greifswald sei explodiert, und die Einwohner der umliegenden Quartale würden evakuiert: Tausende Menschen scharen sich um etwa 30 bis 40 Reisebusse und baten um Einlaß. Die strenge Einhaltung aller Spielregeln der neuen Heilslehre Marktwirtschaft kommt trotz der fast geschenkten Fahrt („Nicht? Nun geben Sie doch mal zu, wo kriegen Sie sowas sonst noch für das Geld?“) zumindest meinen Bus teuer zu stehen: das 'tolle Chemie-Klo‘ ist übergelaufen. So bleiben Münder und Nasen zu und Gespräche spärliche, bis der Schaden im Lippischen behoben wird. Nur über das Nötigste wird geredet: Betragen die Eintrittsgebühren in Ostberliner Videoclubs 3 oder 5 Mark? „Harte Sachen auch bei?“ - „Aber ja!“ Die Karawane formiert sich auf der Autobahn Richtung Helmstedt in voller Länge wie zu einem Militärkonvoi: Dutzende fast neue Busse von einer einzigen Firma mit fortlaufenden Kennzeichen und gleichem Design.
Produktionsstätten
hier
Gegen halb zwölf ist die Hinfahrt geschafft, aber die Eintagsurlauber werden nicht etwa, wie versprochen, in der Lippischen Schweiz abgeladen - gibt es die überhaupt? -, sondern auf einem riesigen Parkplatz zwischen Gütersloh und Bielefeld, der zu einem noch gewaltigeren Flachbau mit der auffällig alibihaften Aufschrift „Produktionsstätten hier!“ gehört.
Von Ausflug ist schon lange nicht mehr die Rede, die „Urlauber“ werden empfangen durch ihre „Fachberater“ und in den Bau geführt, der an die Aldi-Schuppen, längs von Autobahnen und Bundesstraßen, erinnert. Und hier offenbart sich nun etwas, das Günter Mittag in seinem Land, wenn er darauf gekommen wäre, mit Fug und Recht „Kombinat Industrielle Kaffeefahrt“ genannt hätte. Die schlachtfrommen Lämmer aus der erweiterten DM-Zone werden nun aufgeteilt und abgeführt in einzelne Säle, die am Eingang zur Erkennung den Namen der ReiseleiterFachberaterAlleinunterhalter-in-einer -Person tragen: Herbert, Gerhard, Matthias, Heidi, Klaus, Renate. Unser Bus kommt zu „Matthias“.
Tiefgaragen
behaglichkeit
Massenabfertigung ist ein zu schwacher Begriff für diese zupackende Logistik - da bleibt kein einziger Platz frei. Unterwegs kommen wir noch an parkenden Pkws merklich gehobener Preisklasse vorbei, und alles rätselt herum, welcher Schlitten wohl der von Heino sein mag. Dann kommt der erste Gag: „Guten Morgen!“ Es ist nämlich längst high noon, und die Leute sind von der Busfahrt gerädert wie nach einem unfreiwilligen Subbotnik, reif also für einen Mittagsschlaf und nicht für 1.000-Mark-Entscheidungen, die jetzt anstehen. „Frühstücken Sie doch erstmal richtig - denn Mittag - 'reichhaltig und gut‘ - im Fahrpreis enthalten!“ stand unter einem Foto mit fünf übereinandergetürmten Klößen - „Mittag gibt's erst später, wenn wir richtig gearbeitet haben“, sagt Matthias. Auch das „Künstlerprogramm mit beliebten Stars aus dem Musikantenstadl“ läßt noch auf sich warten, Matthias und sein Assistent Helge verbreiten erst einmal Gemütlichkeit.
Die aber will einstweilen nicht so recht aufkommen in dem etwa 200 Quadratmeter großen Raum, der stark an eine Lagerhalle erinnert. Provisorisch wurden Stühle und lange Tische auf den PVC-Boden gestellt, Servierwagen wie aus einem Krankenhaus verbreiten das sichere Gefühl, auf jeden Fall versorgt zu werden. Der Wand- und Deckenschmuck, grüne und rote Weinblätter aus dicker Plaste, kringelt sich und erzeugt Tiefgaragenbehaglichkeit. Deutsche Volksmusik aus allen Boxen: „Wir gehören doch jetzt wieder zusammen, nicht?“ sagt Matthias. Zuerst werden die DDRler, vornehmlich ältere Leute und vereinzelt sogar junge Paare, darüber aufgeklärt, daß sie hier „eigentlich und im Grunde“ alles geschenkt bekommen, von der bunten Einladung bis zur sogenannten „kostenlosen Mitnahme“: 1 Korb - auch als Frühstückskorb zu benutzen, 10 frische Eier, 1 Flasche Wein, 500 g herzhaft knuspriges Landbrot, 250 g Markenbutter, 1 praktische Tragetasche (so heißen im Westen wohl einfache Zellophantüten) - und diese Suggestion funktionert. „Für ganze 19,90 - das ist doch wirklich weniger als gar nichts, ist sagenhaft utopisch - bekommen Sie Waren, ab Werk gefertigt (hier verhaspelt sich der Fachberater und vermischt, um in der Sprache des Kinos zu bleiben, Produktion mit Distribution), erhalten Sie eine gemütliche Kaffeerunde mit Musik, ein herrliches Mittagessen.
Sie kommen weit günstiger an bestimmte Dinge heran, an denen sich sonst die Zwischenhändler dumm und dämlich verdienen. Wir haben heute 8.000 Gäste - alle aus der DeDeÄr, wir haben zur Zeit nämlich nur noch Gäste aus der DDR - die gefallen uns einfach besser, ehrlich!, und am Ende noch Heino als unser Dankeschön für Ihr Kommen und ein kostenloser Besuch im Safaripark, na, wenn das nichts ist da können Sie sich von dem vielen Gesparten doch wirklich was kaufen, nicht? Aber, sie müssen nicht. Wer heute nicht kauft, ist selbst dran schuld, verpaßt eine einmalige Gelegenheit - die gab's gestern nicht, und die wird es nie wieder geben. Aber naja! Der geht eben in die Kaufhäuser und bezahlt da das Doppelte!“
Total
geschenkt
Geschickt bezwingt Matthias die Skepsis auf den Gesichtern seiner Gäste. Er erklärt auch das Wort Bonus, und zwar sehr einleuchtend - als Synonym für„total geschenkt und noch dazu - also das, was Sie in Ihrem Leben noch nie erlebt haben: Der Konzertkartenpreis für Heino, den könnten Sie gar nicht bezahlen. Ist das nicht ein nettes Reiseandenken von meinem Chef persönlich? Da kann man ruhig mal klatschen! Also: Ich gebe jedem von Ihnen - das hab ich mit meinem Chef ausgemacht -, der mir auch nur einen Vorteil eines Federbettes nennt, 1.000 D-Mark auf die Hand.“
Quizfieber kommt auf. Aber die Leute reagieren falsch: Willfährig nennen sie die Vorteile von Naturhaardecken, aber so war's nicht gemeint - dafür gibt es keine 1.000 Mark, die verdient nämlich schon Matthias. Schade. „20 Millionen Deutsche schlafen noch immer unter Federbetten, und seit Herbst sind es bestimmt noch viel mehr... Die Deutschen haben die höchste Rheumarate, dann kommt Rußland.“
Nicht heilen,
aber lindern
Matthias erzeugt Wirkung mit seiner Lamadecken-Lektion; die DDRler ziehen betroffen die Köpfe ein: „Man kann ja wirklich was ganz Entscheidendes in seinem Leben ändern. Jetzt bietet sich solche einmalige Chance.“ Dazu noch die ehrlichen Zauberwörter „Nicht heilen, aber lindern - ist das nichts?“ Und, sagt Matthias, „Sie sind, das weiß ich, allesamt saubere Menschen!“ Mit seinen Sammeldiagnosen und dem Wunsch, „unser aller Leben zu erleichtern und, wenn möglich, zu verlängern“, liegt Matthias goldrichtig. Da wäre das „Europakissen“ („Ich bin ehrlich, bei mir können Sie utopisch sparen, mit einem Granatenpreis!“), und nach 50
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Minuten rückt er mit der Sprache raus, denunziert die Konkurrenz und alle Versandhäuser auf einmal, sagt: „Sie bekommen drei Betten, wenn Sie zwei bezahlen, wieviel also umsonst? Richtig: genau eins, und für die ersten acht gibt's noch ein Geschenk dazu. Kostenlos und ganz persönlich von mir.“
Was immer noch kein Markpreis ist, der wird in langen, sich windenden Bandwurmsätzen umschrieben: „Also, Sie kenn doch SAT1?“ - „Ja?“ - „Und kennen Sie da auch das Glücksrad?“ „Ja!“ - „Und was kostet da so'n Bett?“ - „Über fünftausend.“ (Eigentlich könnte er Preise verteilen für die braven Antworten.) „Und jetzt halten Sie sich mal fest... Ich verkaufe die Decken für keine fünftausend, auch nich‘ für vier, drei, zwei, eins - ich verkaufe drei für zwei, d.h., eine davon für keine 400 Mark, sondern sage und schreibe 398,-. Ist das kein Angebot, ein Superangebot? Was nun? ganz einfach: zupacken. Sowas kommt nie wieder im Leben...“ Und wirklich: Die geköderten ersten acht stellen sich an wie vor kurzem an der Sparkasse. Probeliegen. Sonderbonus, begrenzte Anzahl („Nur für die, die sich schnell entscheiden“).
Es entscheiden sich aber nach und nach so viele so schnell, daß jeder etwas abbekommt. Die alte Mangelpsychose sitzt immer noch tief, und auch die „Geschenke, kostenlos und ganz persönlich“, reichen für jeden Käufer, freilich sehr zum Groll derjenigen, die sich wirklich als erste gemeldet haben. „Wir haben aber noch fünf Decken extra, zum Superpreis, nur für DDR-Bürger, jetzt haltet euch mal ganz schön fest - das kostet keine 40, keine 35, keine 30, das kostet 29,99! Na, 'n bißchen Spaß muß sein, nicht?“
Bis ein Unerschrockener plötzlich ernst macht und die gar nicht ulkige Frage nach etwaigen Prädikaten der Stiftung Warentest einstreut. Wird abgeschmettert: „Wir testen erfolgreich selber, das ist viel zuverlässiger.“ Und wer will sich schon die Freude verderben lassen - es gibt ja noch ein Überraschungsgeschenk für Ehepaare, wiederum „kostenlos und ganz persönlich“.
Spargelcremesuppe
„So und nun zum Mittagsmahl: Unser Chef hat zur Zeit so gute Laune, daß er jeden Morgen zu den Spargelbauern von Westfalen fährt, und deshalb kann er Ihnen heute ausnahmsweise, nur für Sie, extra und ganz persönlich, eine Spargelcremesuppe anbieten für nur - und jetzt halten Sie sich wirklich mal fest - für 2 Mark und einen Eisbecher für 2,50, der sonst natürlich viel, viel mehr kostet - ich lege auch noch eine Mark drauf, geschenkt von mir und ganz persönlich, denn wir haben hier noch Nierenschützer, Stuhlkissen, Kamindecken!“
Gottgläubigkeit geht über Rücktrittsrecht (die Verträge enthalten weder diese Klausel noch sind sie datiert). Während die KaffeefahrerInnen begierig an einem Kleiderständer mit Naturhaarmänteln hantieren, serviert Assi Helge vom selben Gabelstapler das „herrliche Mittagessen“: ein Würstchen und keine 100 g Kartoffelsalat („reichhaltig und gut“).
Was verdienst'n?
„Hier gehen täglich dreieinhalbtausend Decken weg, die werden in drei Schichten genäht, die Firma kommt echt nicht hinterher“, sagt Matthias. „Was verdienst'n?“ frag ich. „Hundert“, antwortet er, und ich denke, als Ostler, in den Kategorien von 100 Mark pro Vorstellung, immerhin macht er drei davon täglich, sogar samstags, wohl jedesmal mit dem selben munteren Überdruck. Matthias versteht nicht. Präzisiert kopfschüttelnd und nicht ohne Triumph: „Hunderttausend.“ Wieder Gegenfrage, nun erschrocken: „Im Jahr?“ - „Nicht doch, Junge: im Monat.“ Und alles kostenlos und ganz persönlich, denk ich.
Aber dann hebt er an zu dem üblichen Klagelied der Großverdiener, Steuern, Unkosten, allein die Versicherung nimmt „fünf“ im Monat, und „den Saal muß ich mieten, das ganze Gelumpe aufkaufen usw.“
„Das geht jetzt insgesamt sechs Wochen so“ - Sondereinsatz DDR, und jeden Tag (einmalig) Heino. „Die Busfahrer schlafen jetzt (bzw. wischen WCs), müssen ja morgen früh wieder ran, darf ja nichts passieren unterwegs.“ Das hat schon wieder was von „Kombinat industrieller Mast“. Matthias lehnt sich erschöpft zurück. In ein paar Minuten folgt der nächste, dafür heute letzte Einzug der Gladiatoren.
Im Bus bringt ein ziemlich angetrunkener Tourist die Enttäuschung auf den Punkt: „Nich‘ een Kiosk für Ansichtskarten, is‘ ja nur 'ne Fabrik... Von wegen Urlaub. Na, die trauen sich wat!“
Heino
Umschnitt: 18 Uhr, nach 2 Stunden Streunen durch ein Disneyland in gottlos abgeholzter Heide: ein „amerikanisches Zirkuszelt, extra für Sie eingeflogen aus Italien“. Die Eurovisionsmelodie zum Wiedererkennen, „daß wir alle Deutsche sind. Dann kommt er zu Ihnen, auf den Sie und wir den ganzen Tag warten. Ein Star seit zwanzig Jahren und doch ein Mensch geblieben“: „Hatten Sie alle eine gute Reise?“ Jajaja, blaublaublau blüht der Enz... Die deutsche Teilung war nie eine „real existierende“. Das Zelt singt mit, zu Tränen gerührt. Eine alte Dame wird auf die Bühne gezerrt. „Edith? Ich hatte auch mal eine Edith“, bekennt Heino, „das war ein heißer Käfer!“ Schließlich Pause für den Verkauf von Platten, MCs, Heino-Mützen und Walkmen (Hannelore: „Zur Erklärung - das sind kleine Tonbandgeräte, die man an sich herumtragen kann, mit Heino-Cassette, ganz persönlich und beinahe kostenlos!“).
Hinter mir sitzt einer, der das Kulturprogramm vom Vormittag noch nicht ganz verarbeitet hat: „Also, Erni, det sag ich dir: wenn die Decke nich‘ hundert Prozent Wolle ist, wie druffsteht, geh‘ ick zur Stiftung Warentest und tausch'se um. Kannste Gift drauf nehmen.“ Am Ende dieses „herrlichen Urlaubstages“ wollen Leute Autogramme, aber da verweist Heino dann doch auf die verteilten Fotos mit Unterschriftenaufdruck und schüttelt geschickt auch die Beharrlichsten ab (siehe Foto). „Auf Wiedersehen im Herbst in Ost-Berlin!“
Dort werden die DDRler nach 2 Uhr nachts wieder ausgeladen und den Taxi-Haien überantwortet, weil sonst nichts mehr fährt - und das ist nun nicht im Fahrpreis enthalten. Der Busfahrer teilt als letzte Nummer die „kostenlose Mitnahme“ aus, das „herzhaft knusprige Landbrot“ ist bis in alle Ewigkeit haltbar eingeschweißt, wie aus Kommißbeständen; die Butter zerlaufen, und auf dem Wein steht: „mit geografischer Herkunft.“ Als letzten Gruß aus der DDR gibt's eine Büchse „Mortadella“ (vom VEB Fleischverarbeitung Meißen/Weinböhla) für 85 Pfennig, kostenlos, ganz persönlich.
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