: Vom zionistischen „Leuchtturm“ zum israelischen Kasernenhof
■ Das Heilige Land ist zur doppelten Zitadelle geworden - umgeben von äußeren Feinden und nach innen allumfassend polarisiert Doch statt über den inneren Grenzverlauf und die verlorene Mitte zu reden, streitet man über äußere Grenzen
Von Walter Saller
„Es gibt keine versklavte Erde, und es gibt keine Befreiung für die Erde. Es gibt versklavte Menschen, und nur für Menschen macht das Wort Befreiung einen Sinn.„(Amos Oz)
Senkrecht steht die Sonne an einem unversöhnlich blauen Himmel über der Altstadt von Jerusalem. Die Muezzine rufen und singen, daß es einen Heiden schier zur Verzweiflung bringt. Mit ihren letzten Rufen setzen die arabischen Händler ihre Waren hinter Schloß und Riegel. Minuten später sind große Teile der Altstadt wie leergefegt: „Intifada -Time“.
Auch im dritten Jahr des Aufstandes steinewerfender palästinensischer Kinder und des zivilen Ungehorsams gegen die israelische Besatzung kommt Mittag für Mittag das Leben in der geteilten, heiligen Stadt zum Erliegen. Nur im jüdischen Viertel bleiben die Geschäfte offen, stauen sich Touristen vor Devotionalienläden, Souvenir-Shops und koscheren Fast-Food-Restaurants. Warum denn die Läden im arabischen Teil geschlossen seien? „Oh“, antwortet der Hamburgerverkäufer freundlich, „heute ist ein islamischer Feiertag.“ Und gestern? Auch ein islamischer Feiertag? Er rückt seine Kippah zurecht und zieht sich wortlos in seinen Glaskasten zurück.
Die Hauptstraße vor dem Damaskus-Tor ist durch blau-weiße Absperrgitter mit der hebräischen und englischen Aufschrift „Polizei“ abgeriegelt: Bombenalarm. Berittene Polizei mit meterlangen Schlagstöcken, vergitterte Wannen, schwerbewaffnete Soldatentrupps und Sicherheitsbeamte mit quäckenden Walkie-talkies. „Es ist nichts“, winkt ein junger Palästinenser ab, „wir belagern einander nur.“
Allumfassend polarisiert und ohne politische Mitte
Seit der Intifada ist der Riß durch Jerusalem, das 1967 im Sechstagekrieg von den Israelis erobert, besetzt und später zur „einigen und ewigen Hauptstadt Israels“ erklärt wurde, mit neuer Schärfe aufgebrochen. Doch längst trennen nicht nur Israelis und Palästinenser Absperrgitter, stehen sich Juden und Araber unversöhnlich gegenüber. Der Riß hat die gesamte israelische Gesellschaft erfaßt. Der Staat Israel ist zur zur doppelten Zitadelle geworden, umgeben von äußeren Feinden und nach innen allumfassend polarisiert: Linke Israelis gegen rechte, fromme gegen weltliche, Anhänger der „Grünen Linie“, der Staatsgrenzen von 1947, gegen Verfechter der „Blauen Jordanlinie“ eines Groß-Israel. Dort aber, wo die politische Mitte liegen müßte, zieht sich ein respektabler Graben, eine Art innerer Grenze. Doch anstatt über den inneren Grenzverlauf und die verlorene Mitte zu reden, streitet man über die äußeren Grenzen.
Der israelische Schriftsteller Amos Oz hat diese Polarisierung vielleicht am klarsten zum Ausdruck gebracht: „Ich sehe eine existentielle Gefahr in der fortwährenden Verdrängung der inneren Spaltung des Landes in der Frage, welches der eigentliche Charakter der israelischen Gesellschaft sein solle, und dem Kaschieren dieser Frage hinter unterschiedlichen Auffassungen über den Grenzverlauf. Wenn das Ziel des Zionismus in der Erneuerung des Königreiches von David und Salomo besteht, dann gibt es eine klare Antwort auf die Frage, was mit den eroberten Gebieten geschehen soll. Wenn das Ziel des Zionismus aber darin besteht, eine aufgeklärte, tolerante und freie Gesellschaft aufzubauen, dann gibt es ebenfalls eine eindeutige Antwort auf diese Frage. Es ist eine Tatsache, daß Hunderttausende von Israelis intellektuell und emotional davon überzeugt sind, Israel werde aufhören zu existieren, wenn es die besetzten Gebiete weiterhin besetzt hält. Nicht mehr und nicht weniger. Auf der anderen Seite glauben Hunderttausende von Israelis, Israels Existenz sei bedroht, wenn es sich aus den besetzten Gebieten zurückzieht. Nicht mehr und nicht weniger. Die einen sind besorgt, ein Israel ohne Nablus und Hebron und mit offenen Grenzen würde weltlich und genußsüchtig werden, ein „Land der Diskotheken“.
Und das wäre für sie beinahe so schlimm wie die völlige Auflösung. Ebenso viele von uns sind der Meinung, ein Israel, das an Nablus und Hebron festhält, könnte bestenfalls ein binationaler Staat sein, eine Art zweiter Libanon, schlimmstenfalls aber ein rassistischer Sklavenhalterstaat. Und das wäre dann für uns das Ende von allem.“
Der Kampf zwischen Joschua und Amos
Die Ursachen dieser Spaltung liegen freilich nicht in den Widersprüchen zweier Völker oder in einem unklaren Grenzverlauf. Ihre Wurzeln zeigen sich schon in dem alttestamentarischen Gegensatz zwischen Joschua und Amos: Der erbarmungslose Krieger und Eroberer Joschua versus Amos, den Propheten einer menschlichen und moralischen Gesellschaft. Auch die frühzionistischen Gesellschaftsvorstellungen wußten um diesen Riß. Der Zionismus der Jahrhundertwende suchte dabei aber noch nach einem Kompromiß, nach einer Verknüpfung von judaistischer Expansion zu einem Groß-Israel und neuzeitlicher Aufklärung.
„Wenn ihr nur wollt, ist es kein Märchen“, begann der Wiener Journalist und Mitbegründer des Zionismus, Theodor Herzl, 1902 sein weltberühmtes, visionäres Buch Altneuland Israel. Den Titel entlehnte er dabei von der Prager Synagoge „Altneuschul“. Treffend, ja geradezu programmatisch erschien ihm die Verbindung von „alt“ und „neu“: Das alte Land der Juden, das nun wieder zu deren neuer Heimat werden sollte. Doch Herzl irrte. Denn das so kerndeutsch klingende „Altneu“ ist keineswegs deutschen Ursprungs, sondern verballhorntes Hebräisch, kommt von „al tnai“ und bedeutet schlicht: „bedingt“.
Nach einer frommen Legende waren die Steine der Prager Synagoge einst Teil des Salomonischen Tempels. Für den Prager Bau durften sie nur unter der Bedingung - „al tnai“ verwendet werden, daß sie dereinst wieder nach Jerusalem zurückgebracht würden. Aber wie dem auch sei, in unbewußter, indes wahrhaft prophetischer Vorahnung hatte Herzl die Bibel der Zionisten „Bedingtland“ genannt.
Doch von Anfang an sträubten sich maßgebliche Zionisten, die Bedingung ihrer Landnahme - die Rechte der im damaligen Palästina lebenden arabischen Bevölkerung zu wahren anzuerkennen. An warnenden Mahnern hat es nicht gefehlt. Schon beim ersten Zionistenkongreß, der 1897 in Basel stattfand, meinte Max Nordau zu Theodor Herzl: „Aber in Palästina gibt es ja Araber! Das wußte ich nicht! Wir begehen demnach ein Unrecht.“
Aus engen Verwandten werden Todfeinde
Die erste „Alija“, die Einwanderungswelle von 1882, hatte schon vor den Zionistenkongressen begonnen. Mit ihr kamen Menschen aus dem Rußland ins verheißene Land der Ur-Väter. In kurzen Abständen folgte nun Alija um Alija. Die Deklaration des britischen Außenministers Balfour von 1917 versicherte die Zionisten dabei der englischen Unterstützung. „Seiner Majestät Regierung“, so die Kernaussage, „betrachtet die Schaffung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina mit Wohlwollen und wird die größten Anstrengungen unternehmen, um die Erreichung dieses Ziels zu erleichtern.“ Vor den arabischen Bewohnern des Landes, mit denen sich die Briten in einer Art Allianz gegen das Osmanische Reich befanden, hielt London diese Zusicherung zwanzig Jahre geheim. Nach dem Zusammenbruch des türkischen Imperiums wurde Palästina 1918 britisches Mandatsgebiet.
Noch 1919 teilte Emir Faisal dem Zionisten Felix Frankfurter seine Bewunderung für den Zionismus mit: „Wir sind der Überzeugung“, so Faisal, „daß Juden und Araber rassisch nahe Verwandte sind, die in ähnlicher Weise durch fremde Mächte verfolgt wurden und die durch ein glückliches Zusammentreffen in der Lage sind, zusammen den Schritt zur Verwirklichung ihrer nationalen Idee zu tun. Wir Araber, blicken mit tiefster Sympathie auf die zionistische Bewegung.“ Nur zu bald aber kam es zu tiefgreifenden Spannungen, wechselseitigen Überfällen, Terror und Blutvergießen. Von 1921 an folgten zahlreiche arabische Aufstände. 1929 lancierte der Großmufti von Jerusalem das Gerücht, Juden wollten islamische Heiligtümer zerstören. Antijüdische Pogrome waren die Folge. Die Verwandten waren endgültig zu Todfeinden geworden, Herzls Traum vom harmonischen „Altneuland“ ausgeträumt.
Kriege, Terror und Vertreibung
Ende November 1947 versuchte die Vollversammlung der Vereinten Nationen noch einmal zu vermitteln. Sie machte den Vorschlag, Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat zu teilen. Jerusalem sollte als religiöses Zentrum von Juden, Christen und Moslems internationalen Status erhalten. Doch zur Verwirklichung dieses Plans kam es nie. Am 9. April 1948 überfiel ein Kommando der jüdischen Terror-Organisation „Irgun“ das arabische Dorf Deir Yassin. Mehr als 250 Menschen wurden ermordet. Dieses Fanal war der Auftakt einer bis heute dauernden Politik der Enteignung und Vertreibung palästinensischer Araber. Stets rechtfertigte Menachim Begin, damals Führer der „Irgun“, das Massaker: „Die Aktion war nicht nur gerechtfertigt. Ohne den Sieg von Deir Yassin würde es heute keinen Staat Israel geben.“ Am 14. Mai 1948 wurde der Staat Israel von Ben Gurion proklamiert. Die Briten, die drei Jahrzehnte die Geschicke Palästinas lenkten, zogen ab. Die Gründung eines arabischen Staates aber unterblieb bis heute.
Schon geraume Zeit vor den „Siegen“ der „Irgun“ hatte sich die frühzionistische Vision einer linksliberalen, jüdischen Gesellschaft gewandelt. Zu tief war der jüdische Staatsgedanke geprägt vom maßlos idealisierten Nationalismus des 19. Jahrhunderts und zu buchstabengetreu wollte man die zionistischen Vorstellungen einer rein jüdischen Gesellschaft, denen Theodor Herzl, Moses Hess, Leon Pinsker und auch Nathan Birnbaum nachhingen, verwirklichen. Einem Mahner wie dem jüdischen Philosophen Martin Buber, der vehement ein Israel für Araber und Juden forderte, mochten nur wenige Gehör schenken. Und so kam, was kommen mußte: Krieg.
Im ersten jüdisch-arabischen Krieg von 1948/49 besetzte Israel mehr als drei Viertel des ehemaligen Palästinas. Die Westbank mit Jerusalem verleibte sich Jordanien ein und den Gaza-Streifen nahm Ägypten in Besitz. Fast eine Million Palästinenser wurden während und unmittelbar nach dem Krieg von 1948/49 aus ihrer Heimat vertrieben. Während der folgenden Kriege von 1956 und 1967 mußten abermals Hunderttausende fliehen. Die Palästinenser waren nun - wie einst ihre jüdischen Vettern - in alle Winde zerstreut, oder lebten unter israelischer Besetzung.
David und Goliat tauschen die Rollen
Angesprochen auf die Grenzen des Staates meinte Chaim Herzog, der erste Staatspräsident Israels: „Ich weiß nicht, welche Grenzen Gott den Juden vorbestimmt hat.“ Und der Staatsgründer Ben Gurion äußerte auf eine ähnliche Frage: „Der Zionismus hat nicht das Recht, auch nur einem einzigen arabischen Kind Schaden zuzufügen.“ Heute hat sich Israel grundlegend gewandelt und solch kleinliche Bedenken plagen Staatsmänner wie Schamir und Scharon kaum. Bei allen Auseinandersetzungen der Vergangenheit spielte Israel die Rolle des biblischen David, der sich mit List erfolgreich gegen den übermächtigen arabischen Goliat durchsetzte. Doch seit der Intifada ist Israel selbst zum Goliat geworden, die steinewerfenden palästinensischen Kinder aber sind in die Rolle des David geschlüpft.
Einem Goliat freilich sind die hehren Prinzipien Ben Gurions fremd. Nichts belegt dies eindringlicher als die Studie Die Lage palästinensischer Kinder während des Aufstandes in den besetzten Gebieten. Zusammengestellt wurde sie von der amerikanischen Soziologin Anne Nixon, die dabei Unterstützung von der UN-Flüchtlingsorganisation für Palästinenser im Nahen Osten (UNRWA) erhielt. „Gewalt, besonders gegen Kinder, überschattet alles“, lautet das erschütternde Fazit. Allein in den ersten beiden Jahren der Intifada wurden 159 Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren getötet. Die meisten Kinder wurden durch „gezielte Schüsse in Kopf oder Nacken“ getötet. Einige wurden schlicht zu Tode geprügelt, andere erstickten an Tränengas. Die Anläße für brutalstes Vorgehen der Soldaten waren dabei oft nichtig: Zum V-Zeichen für Victory gespreizte Zeige- und Mittelfinger, verbales Provozieren von Soldaten, Aufziehen palästinensischer Flaggen oder Nichtbeachtung der Ausgangssperre. „Die hier beschriebenen Verletzungen“, so die Schlußfolgerung von Anne Nixon, „können nicht als ein paar Fälle von Willkür einzelner Soldaten abgetan werden. Sie wurden systematisch begangen und spiegeln Regierungspolitik wider.“
Alles deutet darauf hin, daß es den israelischen Regierungsverantwortlichen nunmehr endgültig geglückt sein dürfte, den jüdischen „Leuchtturm“ der Zionisten in einen israelischen Kasernenhof zu verwandeln. Beinahe 850 Palästineser wurden seit Beginn der Intifada im Dezember 1987 von israelischen Soldaten oder Siedlern getötet, 63.000 Minderjährige durch Geschosse und Prügel verletzt. Mehr als 15.000 Palästinenser befinden sich zur Zeit in israelischen Gefängnissen, Gefangenenlagern und militärischen Verhörzentren. Dort wird systematisch gefoltert. Selbst Berichte über Tortur an Kindern dringen immer wieder an die Öffentlichkeit.
Hippies, Sturmgewehre und Maschinenpistolen
Der Ben-Yehuda-Boulevard im Zentrum von Westjerusalem bietet ein seltsames Bild, ein Bild, zusamengsetzt aus zwei inkompatiblen Hälften. Junge, unbefangene Israelis, deren Haut- und Haartönungen die Geschichte zahlloser verlorener Genealogien erzählen, flanieren vorbei an improvisierten Ständen mit den Produkten klassischen Hippie-Handwerks: Ohrringe aus Silberdraht und Muschelschmuck, ornamentale Batiktücher und kleine Tonpfeifen. Doch die unbefangenen Schulmädchen und -jungen, viele kaum den Kinderschuhen entlaufen, tragen Martialisches lässig über der Schulter: Sturmgewehre und Maschinenpistolen. Auch der Junge, der mit einem Werbeschild für heimisches Bier: „The end is near. Come have a beer!“ auf und ab schlendert, ist mit einer Maschinenpistole bewaffnet.
„Demokratie ist unser gemeinsames Interesse“
In einem Appartementhaus unweit des Ben-Yehuda-Boulevards unterhält das „Alternative Information Center“ ein kleines Büro. Maria öffnet die Tür. Sie ist Mitarbeiterin der seit 1984 bestehenden Einrichtung. „Der Name ist unser Programm“, meint sie und nennt als Träger „progressive Israelis und Palästinenser“. Schwerpunkte der alternativen Informationsvermittlung sind „Menschenrechtsverletzungen in Israel sowie eine kritische, parteiunabhängige Berichterstattung über die politischen Verhältnisse“ im Lande. Der Gründer und Leiter der Einrichtung sei leider verhindert, da er erst kürzlich zu acht Monaten Gefängnis verurteilt worden sei. Er habe, so das Gericht, „seine Augen davor verschlossen“, daß PFLP-nahe Palästinenser „Dienstleistungen der Einrichtung in Anspruch nahmen“.
„Mindestens 30 Prozent aller Israelis“, schätzt Maria, „sind für einen bedingungslosen Dialog mit der PLO. Denn sie verbindet ein gemeinsames Interesse mit den Palästinensern: eine demokratische Gesellschaft. Aber all diese Leute sind kaum mehr mobilisierbar. Die Intifada dauert schon zu lange, man hat sich an sie gewöhnt.“ Gewöhnt? An die Erschießung von Kindern? „Das verwundert uns ebenso. 'Peace Now‘ wird immer pastoraler, und draußen in den Gebieten erschießt man Kinder.“
Kaum zu finden ist das Büro von Hanna Siniora, dem Herausgeber der palästinensischen Zeitung 'Al-Fadschr‘. Es dauert lange, den richtigen Hinterhof in der Ostjerusalemer Nablus Road ausfindig zu machen. Wie die Mittelfigur eines Triptychons sitzt Siniora an seinem Schreibtisch. Links und rechts flakiert von je einem Bild des Papstes. An den Wänden historische Palästinakarten mit ebenso historischen Grenzen. Siniora trinkt einen Schluck Kaffee, lehnt sich zurück und faltet die Hände. „Die neue Regierung? Die hat zwei Aufgaben. Erstens muß sie ihr Image verteidigen und zweitens die größte Einwanderungswelle bewältigen, die es je in Palästina gab. Dadurch ist sie natürlich zur Zurückhaltung gezwungen.“ Die Schamir-Scharon-Regierung also eine Regierung der Mäßigung? „Das habe ich nicht gesagt. Natürlich ist sie auf Expansion aus und bewaffnet die Siedler als Zivilgarde. Aber sie muß das still und leise tun und politischen Wirbel vermeiden. Dennoch haben wir Palästinenser Angst, daß man uns eines Tages deportieren könnte. Die Internationale Gemeinschaft muß Israel unmißverständlich klarmachen, daß es dies nicht ungestraft tun kann. Im Moment verlieren die Palästinenser ihre Jobs. So werden Arbeitsplätze für die Neueinwanderer geschaffen.“ Wo werden die Neuimmigranten wohnen? „Schamir sagt zwar, man werde die Sowjetjuden nicht in den besetzten Gebieten ansiedeln. Aber allein hier in Ostjerusalem sollen zehn Prozent der Neuen angesiedelt werden.“
Viele reden von Krieg. „Nein, nein. Die Kriegsgefahr ist im Moment gering. Denn ein Krieg würde die Alija augenblicklich stoppen. Die nächsten fünf Jahre sollen bis zu einer Million Neueinwanderer kommen. Das will die Regierung nicht gefährden. Am Ende dieses gigantischen Einwanderungsprozesses aber werden die Spannnungen und der Bevölkerungsdruck in Israel so groß sein, daß eine kriegerische Explosion durchaus wahrscheinlich ist.“
Siniora studiert seine Armbanduhr. „Eine Lösung? Die Bedingungen dafür werden schwieriger. Auch bei uns verzeichnen die Radikalen Zuwächse. Die israelische Regierung wäre demnach gut beraten, bald einen demokratischen Dialog mit der PLO aufzunehmen. Zwei Staaten für zwei Völker, das ist meine Lösung.“
Die spanische Reconquista als Modell
Zahlreiche Häuser in den Dörfern zwischen Jerusalem und Hebron sind über und über mit nationalistischen Parolen, palästinensischen Nationalflaggen und antiisraelischen Graffiti bemalt. An vielen Stellen überdeckt dicke, schwarze Teerfarbe die Zeichen des Protests. Von allen Anhöhen weht aus strategischen Gründen der Davidstern. Manche Orte sind mit einem Ring von Wachtürmen umgürtet. Die Glaskabinen und die Abdeckungen der Suchscheinwerfer sind schwer vom Steinhagel gezeichnet. Alle 15, 20 Kilometer wird die Fahrt im Sammeltaxi durch eine Straßensperre unterbrochen.
Ein muffiges, kleines Büro nahe dem Souk in der Hebroner Altstadt. Mitten im Ort haben sich die Siedler niedergelassen. Michael Ben Hourin, Aktivist der radikalen Kach-Partei und selbsternannter „Präsident des Staates Judea“, kommt gleich zur Sache. „Wir sind keine fremden Eroberer, die die Araber vertreiben. Dies hier ist unser Land. Wir sind hier gewesen, bevor die Araber es eroberten. Sie sind die Okkupanten. Vor 2.000 Jahren war hier das Königreich Davids. Die historische Situation, die wir hier haben, ist wie in Spanien.“ Spanien? „Ja. Die Araber fielen in Spanien ein, eroberten das Land und blieben 800 Jahre. Erst als die christlichen Spanier stärker wurden, gelang es ihnen, die Araber in ihre angestammte Heimat zurückzutreiben: nach Marokko. Das, was wir machen, ist nichts anderes und hat sein historisches Vorbild: die spanische Reconquista. All unsere bedeutenden Städte liegen in Yescha. Und das beweist, daß das Israel, wie es vor 1967 bestand, nicht das historische Israel ist.“
Ben Hourin spricht stets von „Yescha“, gemeint ist damit die Westbank mit Nablus, Hebron und Ostjerusalem. Er redet schnell, läßt keine Fragen zu, gestikuliert erregt. „Wenn die israelische Regierung sich je aus Yescha zurückziehen sollte, bitte schön. Wir werden bleiben. Wir hassen die Araber nicht. Sie sollen meinethalben in Frieden leben. Aber nicht hier.“ Und die Intifada? „Intifada, Intifada, Intifada. Euch fällt wohl nichts anderes ein, als immerfort Intifada zu plappern.“ Ben Hourin ist nun wirklich böse. „Die Intifada ist doch nur ein Medienereignis. Das ist kein wirklicher Krieg. Denn die Araber wissen genau, daß wir die Herren sind und auch die Mittel haben, sie zu stoppen.“ Stoppen? „Stoppen heißt: sie organisiert dahin zurückzubringen, von wo sie herkamen. In Saudi-Arabien zum Beispiel gibt es genug Land, genug Wasser. Sehen Sie, gerade sind wir dabei, eine, vielleicht zwei Millionen sowjetischer Juden aufzunehmen. Diese Menschen haben Tausende von Jahren in Rußland gelebt. Und sie haben nicht gegen die Russen rebelliert. Sie haben einfach nur erkannt, daß die Russen sie nicht wollen. An diesem Beispiel sieht doch jeder Idiot, daß der Transfer eines Volkes von einem Land in ein anderes funktioniert.“
Siedlerbroschüren und Insektenspray
Eine dünne Broschüre mit dem Titel Shoot Arabs kursiert derzeit unter den Siedlern der Westbank. Auf sieben Seiten wird beschrieben, wie man Araber erschießt und dabei das Risiko, strafrechtlich verfolgt zu werden, möglichst gering hält. Die Broschur rät ihren Lesern, im Zuge der „aktiven Verteidigung“ Waffen der Armee zu verwenden, speziell das „M -16„-Gewehr bzw. das „Galil„-Sturmgewehr. An Munition sollte man solche verwenden, die beim Aufprall zersplittert. Denn das mache jede ballistische Untersuchung praktisch unmöglich. Angreifer tragen am besten Militärkleidung, vermummen sich und vergessen auch Plastikhandschuhe nicht. Selbst der Rat, sich vor der Geschwätzigkeit der Frauen zu hüten, fehlt nicht. Die Broschur ist ebenso sachlich gehalten wie die Gebrauchsanweisung auf einer Dose Insektenspray. „Wir hassen die Araber nicht“, meinte Ben Hourin. Man haßt ja auch die Moskitos nicht. Sie sind nur eben etwas lästig.
David, amerikanischer Jude und wie viele seiner Landsleute für ein, zwei Jahre in Israels „Wild West“ zu Besuch, bietet einen Spaziergang in der unmittelbaren Umgebung von Hebron an. „Mach doch die Augen auf, Junge! Bei uns ist alles grün. Und bei denen? Wüste, Wüste! Bitte, sieh dich um.“ Das Bild stimmt. Der Gegensatz könnte kaum größer sein. Prallgrün die eingezäunten Pflanzungen der Siedler, graubraun die palästinensischen Haine. Doch David, großzügig in seinen ausladenden Gesten hat ebenso großzügig ein paar Details unterschlagen. Schon in den siebziger Jahren ließ die israelische Militärregierung an allen arabischen Brunnen und Pumpen Wasseruhren anbringen, um den Verbrauch der Palästinenser streng zu rationieren. Neue Brunnen dürfen die Palästineser nicht graben. Und in etlichen Dörfern vertrockneten die arabischen Brunnen, nachdem in unmittelbarer Nähe die Siedler einen modernen Tiefbrunnen gebohrt hatten. Die Siedler der Westbank, weiß die Statistik, obwohl nur fünf Prozent der Bevölkerung, verbrauchen mehr als ein Viertel des gesamten Wassers. Probleme mit den Palästinensern sieht David nicht. „Wir werden die Araber dorthin treiben, wo sie hingehören. Nach Jordanien.“
Felsendom versus Salomos Tempel
Am Nachmittag hält Rabbi Meir Kahane Hof in dem muffigen Siedlerbüro. Er zeigt Dias. Ein Bild des Jerusalemer Felsendoms erscheint. Es ist still im Raum. Ein blendender Blitz und der Felsendom auf der Kalkwand ist verschwunden. An seiner Stelle steht nun eine Rekonstruktion von Salomos Tempel. Beifall brandet auf. Keine Frage, die Siedler nehmen seine Sprengungsscherze ernst. Kahane ist nun bereit, einige Fragen zu beantworten. Wieder das Wort Intifada. Aber er wird nicht böse wie Ben Hourin. Ihn langweilt die Frage offensichtlich. „Als erstes“, beginnt er langsam, „würde ich solche wie dich nicht mehr nach Yescha lassen.“ Doch urplötzlich wird auch er heftig. „Keine Medien mehr in Yescha! Schluß! Aus! Dann würde ich den Truppen erlauben, 48 Stunden zu tun und zu lassen, was sie für richtig halten. Und glaub mir, innerhalb dieser 48 Stunden wäre der ganze Spuck vorbei. Eine Armee, die 1967 in sechs Tagen vier arabische Staaten besiegt hat, schafft das spielend.“ Und die überlebenden Palästinenser? „Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Polen und Tschechen zwölf Millionen Deutsche aus ihren Länder vertrieben. Die Polen und Tschechen haben einfach nur aufgehört, 'wie, wann und warum‘ zu fragen. Sie haben einfach 'raus!‘ gesagt. Und damit hatte es sich. Wir müssen eben lernen, mit einer Welt zu leben, die uns dafür vielleicht hassen wird.“
Gaza, die fremd gewordene Heimat
Knapp zwei Stunden dauert die Fahrt von Hebron nach Gaza. Am Checkpoint bei Erez, dem Übergang von Israel nach Gaza, die Frage nach den Ausgangssperren. „Ab 16 Uhr 30 bis fünf Uhr früh“, leiert der junge israelische Soldat. „Aber wenn du mich fragst, sind Ausgangssperren sowieso die falsche Politik.“ Warum? „Was denkst du macht der Araber, wenn er nicht raus kann? Kinder! Kinder! Wunderschöne, steinewerfende Kinder!“
Brennend liegt die Hitze des Sommers über dem knapp 45 Kilometer langen und zehn Kilometer breiten Sandstreifen, der sich zwischen Israel und dem Sinai entlang des Mittelmeeres zieht. 700.000 Palästinenser leben - zumeist in Flüchtlingslagern - auf zwei Dritteln des 365 Quadratkilometern großen Streifens. Auf dem wasserreichen, restlichen Drittel haben sich in etwa 20 Siedlungen rund 2.500 israelische Siedler niedergelassen, die nach dem Friedensvertrag mit Ägypten ihre Dörfer auf dem Sinai verlassen mußten. In Gaza nahm die Intifada ihren Anfang und weitete sich dann auf Westbank und Ostjerusalem aus.
Ins Gewirr der Baracken, Hütten, und improvisierten Elendsquartiere von Dschabaliya, dem größten Flüchtlingslager von Gaza, haben die Israelis breite, schnurgerade Straßen geschlagen. Offene, stinkende Kloakenkanäle, an denen Kinder spielen, fließen durchs Lager. An einer Hauptstraße sickert Trinkwasser aus einer defekten Leitung. Wasser ist in Gaza Mangelware, doch die Besatzer, die das Leitungsnetz kontrollieren, scheint der Schaden nicht zu stören. Die israelische Regierung ist in dem ungeliebten Wüstenstreifen nur an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung interessiert. Und das mit allen Mitteln, inklusive der Sprengung von Häusern, wenn deren Bewohner der aktiven Intifada-Unterstützung verdächtig sind. Erst kürzlich bestellte die israelische Armeeführung in Gaza Schlagstöcke aus Buchenholz. Der Verschleiß bei den eichenen war zu hoch.
Kein Wunder, daß in Gaza auch bei den Palästinensern die Radikalen Wortführer sind. „80 Prozent unterstützen hier Hamas, in der Westbank sind es höchstens 20 Prozent“, meint Mahmud. „Die PLO hat hier abgewirtschaftet.“ „Hamas“ ist die fundamentalistische Palästinenserbewegung. Das Wort bedeutet „Begeisterung“. Wir gehen durch stinkende Gassen voller Müll und Exkremente. An einer Hausmauer Davidstern und Hakenkreuz, dazwischen ein Ist-Gleich-Zeichen. Die Anschuldigungen auf seiten der Radikalen gleichen sich. Der israelische Schriftsteller Mosche Schamir spricht nie von Intifada, stets nur von „palästinensischer Hitlerjugend“.
Ein Junge wirft langsam und ohne rechte Begeisterung kleine Steine nach einer alten, unverschleierten Frau. Mahmud zischt den Jungen an. Er rennt weg. „Der ist vielleicht sechs Jahre und schmeißt auf eine Unverschleierte.“ Hamas? „Quatsch, ein Kind gehört doch keiner Partei an.“ Trotzdem, die Propaganda muß tief sitzen. „Die Intifada ist in der Krise. Wir sind in unterschiedliche Lager gespalten. Jeder verdächtigt langsam jeden der Kollaboration mit den Israelis. Und die Radikalen von Hamas schreien nach Waffen.“ Wir sind vor Mahmuds Barackenhaus angekommen. Achmad, der alte Onkel sitzt auf der Türschwelle. „Sag, kann einem die Heimat zum Feind werden?... Meine ist es geworden. Sie ist mir fremd.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen