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„Fliegen Sie nach Lwow, ich bin bewaffnet“

■ Die schreckliche, unglaublich wahre Geschichte vom sowjetischen Geschäftsreisenden, der nicht mehr nach Hause kann und aus Verzweiflung zum Flugzeugentführer wird / Eine taz-Exklusivsatire aus den 'Moskowskije Nowosti‘

Von Leonid Treyer

Das ist nun schon das dritte Mal in zwei Monaten, daß ich nach Lwow wollte und dabei gescheitert bin. Gerade hat das Flugzeug Kurs genommen, da kommt ein Passagier und meint: „Sagen Sie dem Piloten, es geht nach Schweden, oder ich jage das Ding in die Luft.“ So bin ich nun in der Zwischenzeit in Helsinki, Stockholm und Oslo gewesen. Obwohl ich wirklich nur zurück zu meiner Frau und den Kindern möchte. Sie glauben nicht mehr, daß ich jemals zurückkomme von meiner Geschäftsreise. Letzte Woche rief ich meine Frau aus Helsinki an. „Entführt? Schon wieder?“ Und sie fing an zu weinen. Sie glaubt mittlerweile, ich such‘ mir die Flugzeuge mit Entführern an Bord extra aus, um die Welt zu sehen. Und was für eine exzelente Art zu reisen das ist! Anfangs geht dein Arsch auf Grundeis. Dann verbringst du die Nacht auf einem fremden Flughafen, um am Morgen unrasiert und durcheinander zurückzufliegen. Kein Sightseeing etwa durch Stockholm bei Nacht, kein Shopping für die Familie, denn ich hab‘ ja nur Rubel bei mir. Und die scheint hier keiner haben zu wollen. Nein, ich mache unseren nördlichen Nachbarn keine Vorwürfe. Wir bringen diesen ahnungslosen Leuten nichts als Scherereien. Aber dies ist schon der zweite Monat, in dem ich nicht zurück nach Lwow kann. Jedesmal, wenn ich einchecke, frage ich daher meine Mitreisenden: „Genossen, wenn einer von euch in ein anderes Land will, ich hab‘ überhaupt nichts dagegen. Aber laßt mich draußen!“ Die gucken mich dann immer an, als wäre ich nicht ganz dicht.

Letztes Mal dachte ich endlich: Du Glückspilz. Ein hübsches junges Mädchen setzte sich neben mich. Ich vergaß für einen Moment sogar, daß ich auf die sechzig zugehe, und freute mich darauf, sie so richtig vollzuquatschen. Ich erzählte ihr Witze und sie lachte. Dreißig Minuten waren vergangen, da reichte sie der Stewardess einen Zettel und sagte: „Informieren Sie den Piloten...“ Das hieß, ich würde es wieder einmal nicht bis nach Lwow schaffen. Das schlimmste war die Tasche, die das Mädchen auf ihrem Schoß hatte. Sie tickte...

„Entschuldigen Sie, junge Frau“, flüsterte ich. „Sie wollen nach Oslo?“ „Stockholm“, antwortete sie. Vorsichtig versuchte ich ihr klarzumachen, daß die Schweden ihr dafür wenigstens drei Jahre geben würden. Sie gab sich unbeirrt, drei Jahre, darauf sei sie vorbereitet. „Aber warum im Gefängnis sitzen? Können Sie nicht wie jeder normale Mensch handeln und sich an die gesetzliche Prozedur halten? Wenn alles glattgeht, bringt diesen Sommer der Oberste Sowjet sogar noch das Auswanderungsgesetz durch. Dann können Sie fahren, wohin Sie wollen.“

„Laß mal, Alterchen“, winkte das junge Ding ab, „du bist ganz schön naiv, obwohl du dein ganzes langes Leben im Sozialismus verbracht hast. Merkst du denn nicht, was in unserem Land los ist? Wenn man bei uns schon mal ein brauchbares Gesetz verabschiedet, wird das doch gleich durch Zusatzklauseln wieder ausgehöhlt. Dann stehst du da. Das Gesetz ist da, aber es funktioniert nicht. Ich krieg‘ das, was ich will, schneller, wenn ich in einem schwedischen Knast sitze.“

Die Stewardess kam zurück und fragte das Mädchen vorsichtig: „Der Kapitän wüßte gerne, ob Ihre Bombe echt ist oder nur eine Attrappe?“ „Seien Sie sich da ganz sicher. Das Ding reißt das Flugzeug in tausend Stücke.“ Sie öffnete die Tasche und drin war ein Mordsding von einer Bombe. Die Stewardess wurde blaß und rannte zurück ins Cockpit. Nach einer Minute war sie wieder da. „Der Kapitän sagt, er könne nicht in Stockholm landen, wegen des schlechten Wetters. Geht auch Helsinki?“ Das Mädchen überlegte kurz, gab dann ihr O.K. mit dem Kommentar: „In Finnland ist der Lebensstandard auch noch hoch genug. Also nach Helsinki.“

Die Passagiere verbrachten die Nacht in Helsinki und wurden am Morgen nach Murmansk geflogen. Nur das junge Mädchen war nicht dabei. Nun hätte ich gerne gewußt, wann das endlich ein Ende findet. Warum in aller Welt sollen 170 Leute via Stockholm nach Lwow fliegen wegen eines einzigen Passagieres? Würde es dem Land nicht billiger kommen, wenn jeder dorthin fliegen könnte, wohin er will?

PS: Gestern habe ich es endlich nach Hause geschafft. Um ehrlich zu sein, ich hatte dem Piloten einen Zettel zugesteckt: „Fliegen Sie nach Lwow. Ich bin schwer bewaffnet und gefährlich.“

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