„Der Tag der Katastrophe darf nicht kommen“

■ DDR-Bankrott seit 1977 bekannt / Aus den Notizen des FDGB-Chefs Harry Tisch über eine Krisensitzung der ehemaligen Führungsspitze bei Erich Honecker

Von H.H.Hertle/M.Kempe

Erich Honecker war alarmiert. Die neuesten Nachrichten aus der DDR-Wirtschaft versprachen nichts Gutes. „Das vorliegende Material“, faßte Honecker den Sachstand zusammen, „stellt uns vor schwerwiegende Entscheidungen.“ Und so fand sich am 18.November 1977 die gesamte damalige Führungsspitze der Partei beim Staatsratsvorsitzenden zur Krisensitzung ein: Willi Stoph, der Ministerpräsident, und Werner Krolikowski, sein Stellvertreter, Günter Mittag, der für Wirtschaft zuständige Sekretär im ZK der SED, Gerhard Schürer, der Vorsitzende der Plankommission - sie alle saßen in der Runde und beratschlagten, was zu tun sei.

Was in der erlauchten Runde diskutiert wurde, geht aus handschriftlichen Notizen des ehemaligen FDGB-Vorsitzenden Harry Tisch hervor, der ebenfalls an der Sitzung teilgenommen und in Stichworten den Verlauf des Gesprächs protokolliert hat*. Die Notizen des Gewerkschaftsbosses belegen: Mindestens seit 1977 hat die Führungsclique des SED -Staates hat das ganze Ausmaß der ökonomischen Krise der DDR gekannt. Sechzehn Jahre, nachdem sich die Parteiführung mit dem Bau der Mauer auf brachiale Weise eine politische und ökonomische Atempause verschafft hatte, stand der erste sozialistische Staat auf deutschen Boden erneut vor dem Abgrund. Noch war die Bevölkerung nicht aufgeschreckt, aber an den wirtschaftlichen Plandaten konnten die SED-Politiker schon ablesen, daß sie ihr Schiff gründlich in den Sand gesetzt hatten. Trotzdem haben sie so weiter gemacht wie zuvor.

Die Ausarbeitung des Plans für das Jahr 1978 bereite unlösbare Probleme, machte der Vorsitzende der staatlichen Plankommission, Gerhard Schürer, den Spitzengenossen klar. Auf Investitionsvorhaben müsse verzichtet werden, das Verhältnis von Export zu Import und damit die Valutabilanz verschlechterten sich fortwährend. Die außenwirtschaftlichen Belastungen stiegen, die Devisenbilanz entwickle sich zu einem schweren Problem, faßte Honecker in der Runde den Sachstand zusammen. Seine düstere Prognose: „Die Katastrophe (ist) schon für Mitte nächsten Jahres vorprogrammiert.“

Aber die Genossen wollten der Wahrheit nicht ins Auge sehen. Offensichtlich wollte man das Paradestück der DDR -Politik, die nicht finanzierbare sogenannte „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“, als wichtigstes Instrument der SED-Herrschaftssicherung nicht durch Wirtschaftsreformen in Frage stellen. „Der Tag der Katastrophe darf nicht kommen“, rief Werner Krolikowski beschwörend in die Runde, um gleich darauf mit volkswirtschaftlichen Platitüden der Krise zu Leibe zu rücken: Die Wachstumsrate der Wirtschaft dürfe sich nicht verschlechtern, Akkumulation und Konsumption gehörten vielmehr ins rechte Verhältnis gesetzt. Im Klartext: Konsumverzicht der DDR-Bevölkerung zugunsten industrieller Investitionen, weniger Importe, Beantragung eines Milliardenkredits bei der Sowjetunion.

Günter Mittag, der von Honecker protegierte Wirtschaftspolitiker in der SED-Führung, sah sich vor ungelöste Fragen gestellt, wußte aber offensichtlich außer einem Hinweis auf das Parteiprogramm keine konkreten Antworten. Dick unterstrichen vermerkt Tisch zu den Ausführungen des obersten SED-Wirtschaftsexperten: „keine Vorschläge“. Nur einen Vorschlag hat Tisch vermerkt: „einen Tag Subotnik“.

Das war ein Vorschlag so ganz nach dem Herzen des SED -Chefideologen Kurt Hager. Die katastrophalen ökonomischen Daten, so scheint er gedacht zu haben, sind halb so schlimm. Der Plan stelle die - nach seiner Meinung offensichtlich noch vorhandenen - Reserven nicht richtig dar. „Die eigene Leistungskraft wird unterschätzt“, meinte Hager und empfahl, die „Masseninitiative“ ordentlich anzustacheln.

Auch Genosse Honecker fand an Krisenrezepten Gefallen, die auf eine Verschärfung des ideologischen Drucks auf die Bevölkerung hinausliefen. Er forderte den ideologischen „Kampf gegen alles, was unsere Volkswirtschaft in Mißkredit bringt“. „Maximale Mobilisierung aller Potenzen“ hieß die Parole, im übrigen galt: „Keine Panik machen.“

Seit 1977 hat sich in der DDR-Wirtschaftspolitik nichts Entscheidendes verändert. „Maximale Mobilisierung“ hieß nicht weiter als forcierte Agitation, um die lethargische und renitente Bevölkerung zu höheren Arbeitsleistungen anzutreiben. Es beinhaltete die Fortsetzung der allgemeinen Verschleißproduktion, zunehmende Kreditaufnahme und Verschuldung im kapitalistischen Westen, aber auch die bewußte Hinnahme von Umweltkatastrophen, die Unterlassung minimalster Vorkehrungen zum Umwelt- und Arbeitsschutz. Nicht die Wirtschaftspolitik wurde verändert, sondern die Propaganda der Partei- und Staatsführung wurde neu instruiert: „Unsere Wirtschaftspolitik richtig darstellen“, hat Honecker schließlich seinen Genossen empfohlen.

Die DDR-Ökonomie hat schon in den 70er Jahren alle Krisenmerkmale aufgewiesen, die jetzt - in der Konkurrenz zur hocheffektiven BRD-Wirtschaft - in den Kollaps münden. Die SED-Führungsclique hat das alles gewußt, aber im Interesse der Herrschaftssicherung die notwendigen Reformen unterlassen. Das jahrzehntelange Wissen der SED-Führung um die Agonie der Wirtschaft und ihre Unfähigkeit, Veränderungen herbeizuführen, erklärt ihren schwachen Widerstand gegen die Veränderungen des letzten Herbstes. Sie wußte einfach nicht mehr weiter.

(aus dem demnächst in Ost-Berlin erscheinenden Buch „FDGB -intern, Innenansichten einer Massenorganisation“, von Wolfgang Eckelmann, Hans-Hermann Hertle, Rainer Weinert)