: „Vielleicht zu optimistisch - doch im einzelnen ganz aktuell“
■ Eine Zukunftsvision des amerikanischen Schriftstellers Joel Agee über die Metropole Berlin in fünfzig Jahren
„Schreiben Sie doch mal darüber, wie Berlin in 50 Jahren aussieht!“, bat die futurologische US-Zeitschrift OMNI im Frühjahr 1989 den Schriftsteller Joel Agee. Als sein Essay erschien, war der Autor, der im Oktober 1989 als Berichterstatter für die 'New York Times‘ in die DDR flog, zunächst verärgert, da OMNI einige Zeilen gestrichen hatte jetzt aber, so Agee, erweise sich „die futurologische Phantasie, obwohl in den Daten unzutreffend und vielleicht zu optimistisch, doch im einzelnen ganz aktuell“. In Gänze wird Agee seinen bisher im Deutschen unveröffentlichen Text zur heutigen Eröffnung der Ausstellung „Deutsche Fer(ie)nziele“ vorlesen. Hier ein Auszug:
Als die alten politischen Grenzen im Jahre 2012 aufgelöst und Ost- und Westdeutsche einander an die Brust geworfen wurden, war die Reaktion nicht immer mit einer Umarmung vergleichbar. Die Leute entdeckten, daß sie gar nicht die selbe Sprache sprachen, daß das zynische Gesetz des Geldes auf der einen Seite und das Walten einer idealistischen Lüge auf der anderen Köpfe und Herzen naher Verwandter sehr unterschiedlich geprägt hatten. Überall in Deutschland führten diese Spannungen zu wilden Kämpfen, sogar Morden, doch besonders in Berlin, dem Epizentrum der Ost- und Westfeindseligkeiten. Die Berliner erinnern sich noch heute an den Wollankstraßenkrieg von 2016, eine blutige Dreitagesschlacht zwischen den Einwohnern des ehemaligen Ostbezirks Pankow und denen des ehemaligen Westbezirks Wedding: Auf beiden Seiten die gleichen bierschluckenden, aufgeschwemmten jungen Männer, angeheizt von demselben wilden Haß gegeneinander und jeweils überzeugt von der Überlegenheit ihrer Ideologien, ihrer Fußballmannschaften und ihrer Ansprüche auf das stolze Prädikat „Berliner“.
Seitdem haben Pankow und Wedding ihren Zwist und sogar ihren Namen vergessen: ihr gemeinsames Terrain heißt jetzt „Alt-Berlin“ und ist zu einer Art Museum geworden, wo Besucher die Vergangenheit erleben können. Da sitzen sie in ihren altmodischen Kneipen, die Überreste eines Proletariats, das seine ökonomische Basis verloren hat, singen und witzeln in ihrem merkwürdigen, trocken schnarrenden Dialekt. Europa wird von Instrumenten beherrscht, die diesen Männern und ihren Frauen unverständlich geworden sind, und die Stadt ist nicht nur aus allen Fugen geraten, sondern hat sich auch bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Was früher auf das inzwischen unter den Meeresspiegel gesunkene New York zutraf, gilt in noch größerem Maße für das moderne Berlin: Die ganze Welt kommt, um hier zu leben, zu spielen, zu arbeiten, zu studieren, sogar um zu sterben Touristen, Händler, Mystiker, Süchtige, Visionäre und hungrige Emigranten, Künstler und auch ihre Fans (Massenimprovisationskunst ist groß in Mode), Playboys, Fanatiker und Jünger jeden politischen und religiösen Schlages, und besonders die Anhänger der neuen „Psychologie globaler Konfliktlösung“, einer Art weltlicher Religion, die Theater, Chaosforschung und eine westliche Spielart des Taoismus vereinigt und junge Menschen aus allen Kontinenten zu der Gründungsakademie in Berlin zieht. Die Welt ist noch immer ein gefährlicher Ort - jeder lokale Aufruhr könnte den Erdball buchstäblich aus seiner Achse kippen - endlich aber ist in dieser Stadt, die zweimal der Welt den Krieg erklärt hat, die Wurzel des Übels im Herz der Menschen zumindest freigelegt.
Eröffnet wird die Ausstellung heute um 19 Uhr in der Galerie Schlesische Straße 12, 1/36.
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