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Tomaten auf den Augen

 ■ Die Geschichte des Farbfilms ist die Geschichte einer

Verdrängung

M. Gimes sprach mit Frieda Grafe

Frieda Grafe: Der Anstoß, mich intensiver mit Farbe im Film zu beschäftigen, war die simple Feststellung, daß sie ein so entscheidender Faktor beim Filmesehen ist, im Schreiben über Film aber nur einen geringen Raum einnimmt. Ich habe mich gefragt, ob es mit meiner Neigung zu tun hat, mich für frivole Probleme zu interessieren, oder aber ob die anderen anders sehen als ich.

Ich habe angefangen aufzupassen, wie Filme mit bewußter Farbgebung aufgenommen wurden.

Farbe hat nie im Vordergrund von Filmanalysen gestanden. Selbst in Büchern, deren Sujet das Verhältnis von Malerei und Film ist - in BonitzersDecadrages kommen gerade drei Sätze über Farbe vor. In einem kürzlich erschienenen Buch von Jacques Aumont gibt es zwar ein Farbkapitel, aber auch er beschäftigt sich in ihm lieber mit Licht als mit Farbe. Ich kritisiere das nicht, ich finde es nur symptomatisch. Formen - mise en scene, cadrage, point de vue - Inhalte, Ideologien lassen sich leichter beschreiben als Farbe und ihre Wirkungen. So ist sie immer zu kurz gekommen.

(...) Ich habe, als ich Goethes Farbenlehre mir wieder vorgenommen habe, ein Buch von Albrecht Schöne, dem Göttinger Germanisten dazugelesen, der die Auseinandersetzung zwischen Newton und Goethe völlig zugunsten Newtons entscheidet - sehr komisch, daß ein Germanist lieber den wissenschaftlichen Standpunkt Newtons rettet als den der Kunst.

Grundsätzlich ist Farbe in der Theorie immer einem Verdrängungsprozeß unterlegen. Weshalb das auch im Kino noch so weiterging.

Für mich ist Farbe nicht etwas, daß äußerlich an den Objekten haftet. Farbe - ein Kleid, das rot ist bei Nicholas Ray, ein Technicolorblau am oberen Bildrand, wenn Fred Astaire somnambul auf einem Dachfirst tanzt -, bewußt eingesetzte, intensive Farbe ist ein Spur, die ins Innere der Filme führt und von der Erzähllinie ablenkt. Sie ist für farbbewußte Regisseure ein Sprengstoff, der momentan vom Zwang der geregelten Erzählung befreit. Schließlich hat mich die Auseinandersetzung mit Farbe auch deshalb gereizt, weil in früheren Ansichten und Theorien, die sie verächtlich machen, sie oft mit Weiblichkeit in Zusammenhang gebracht wird. So pointiert wie bei dem Franzosen Charles Blanc, einem Zeitgenossen von Delacroix hat man es selten gehört: „...Farbe muß der Form untergeordnet bleiben (...) andernfalls (...) wird die Malerei ins Verderben geführt wie die Menschheit von Eva...“ Von der Polemik abgesehen, was festzuhalten ist: Farbe ist äußerlich, sekundär, nie essentiell.

Der Umschlag kam dann im 19.Jahrhundert. Mit der modernen Malerei wurde die Farbe das Primäre (La couleur cree la forme - Cezanne).

In der Malerei und im Film impliziert die veränderte Vorstellung von Farbe eine Veränderung der Position des Zuschauers vor der Kunst. Daß er nicht mehr distanziert eine Szene sieht oder einer Erzählung folgt, sondern über seine Affekte - die Impressionisten sagten Sensationen reingezogen wird in den Bildprozeß.

(...) Wann die Geschichte des Farbfilms anfängt? Man vergißt leicht, daß die ersten Filme farbig waren, die Stummfilme waren getönt und gefärbt. Wenn man heute versucht, ihre Farben zu restaurieren, dann entspricht das dem Zustand, in dem sie konzipiert und gezeigt wurden. Wenn Eric Rohmer sich heute gegen die Farbrestaurierung von Stummfilmen ausspricht, dann spricht er sich dafür aus, sie mit der Patina zu sehen, die sie in den späten Vierzigern und zu Anfang der Fünfziger hatten. In den Zwanzigern waren sie bunt. Ob man die ursprünglichen Farben wieder erreichen kann, ist eine andere Frage. Meine ersten Reaktionen auf den farbigen Nosferatu waren auch negativ. Aber wenn man bedenkt, daß Murnau im Drehbuch zu Schloß Vogelöd ausdrücklich anmerkt, er wolle die Traumsequenzen in Schwarzweiß, dann bekommt man eine Idee davon, daß das Eingefärbte, Bunte damals das normale Äußere repräsentierte. Das Geisterhafte, Phantastische sah Murnau schwarzweiß.

Fritz Lang hat die Premiere von der Frau im Mond platzen lassen, weil er mit den Farben nicht zufrieden war. Sie waren also für die Filmer wichtig, sie bezogen sie in ihre Überlegungen ein. Aber in den Filmkritiken aus der Zeit ist nie von diesen Farben die Rede. Natürlich auch, weil es kodierte Farbe war, nur wenige und mehr oder weniger gleichbleibende Töne. Aber sie spielte eine Rolle, sie hatte, bei Murnau bestimmt, eine Funktion. Wenn das Bild rosa wurde, dann bedeutet das Dämmerung und die Ankündigung: jetzt beginnt die Zeit des Vampirs. Heute, in schwarzweiß, geht der Vampir in hellem Tageslicht spazieren. Da stimmt wirklich was nicht.

Auch bei Melies, in La voyage a travers l'impossible, war die böse, gefräßige Sonne golden. In den Premierenkopien von Stroheims Greed waren Dinge, die mit der Geldgier zu tun hatten, von Hand koloriert in Gold, und wenn die Fahne in Eisensteins Potemkin hochging, war sie handkoloriert rot. Sonst hat es in der sowjetischen Kinematographie kein Tinten und Tonen gegeben.

Miklos Gimes: Wann setzt der bewußte Gebrauch der Farbe ein?

Der bewußte Gebrauch von Farbe ist immer abhängig gewesen von einzelnen Autoren, obwohl es auch vom System, gewissermaßen automatisch produzierte interessante Farbfilme gibt. Was es mit den Super-Cine-Western auf sich hat, das wäre schon interessant herauszufinden.

Ein farbbewußter Autor ist z.B. Mitchell Leisen und Lady in the Dark, ein Musterbeispiel für das, was in Hollywood mit Farbe möglich war. Leisen benutzt Farbe monochrom in den Träumen, und setzt sie so gegen den realistischen Gebrauch in der Haupthandlung ab.

Renoir verwendet Farbe in The River, in La carosse d'or, inElena et les hommes weder realistisch noch fiktionell in der üblichen Bedeutung dieser Unterscheidungen. Er selbst sagt, er verstehe sie realistisch, meint aber damit nicht: objektgebunden. Er lenkt mit ihr die Aufnmerksamkeit des Zuschauers auf Aspekte seiner Stoffe, seiner Sujets, die in der Farbe begründet sind. Gewisse Grün- und Blautöne in The River sind der Geschichte, die er erzählt, enger verbunden, haben direkter mit ihr zu tun, als Kameraarbeit oder Plotkonstruktionen oder Schnitt ausdrücken könnten. Das hat wahrscheinlich mit der Wahrnehmung von Farbe, wie sie über den Apparat passiert, zu tun. Renoir war der Ansicht, man könne Farbe fotografieren, und das sei eine andere Farbe als die der Maler. Ich interpretiere ihn so: Daß Farbe in der Realität mit dem Apparat anders festzuhalten ist als mit dem menschlichen Auge direkt. Weil der Wahrnehmungsprozeß übers Auge immer auch die Imagination des Schauenden aktiviert, was die Farbwahrnehmung verändert. Man kann in Filmen von Renoir Farbe sehen, ehe sie zum Attribut von Objekten wird.(...)

Vor zwei Jahren haben Sie für Berlin eine Retrospektive des Farbfilms zusammengestellt. Was würden Sie neben Renoir und Leisen als typische Autorenmuster für den Umgang mit Farbe bezeichnen?

Antonioni hat Farbe immer als Mittel verstanden, um Innenbereiche zu beschreiben. Er hat allein in der Rigorosität Farbe nach außen gekehrt, um Zustände zu beschreiben. Die Amerikaner haben Farbe eher gebraucht als Protest gegen die Realismusnormen der Studios, wo die Farbberater für dezente Glaubwürdigkeit sorgten. Bestimmte Farbkombinationen bei Nicholas Ray und bei Minelli sehen ganz danach aus, daß die üblichen Studiofarben sie dazu inspirierten, ihre eigene Palette zu entwickeln. Natürlich ist das Gelb und Blau in Fords Kavallerie-Western zunächst realistisch, aber es wird auf eine solche Weise in positivem Sinn penetrant, daß Blaugelb im Endeffekt mindestens so wichtig ist wie, daß es eine Reihe von Kavalleriemännern ist, die am Horizont daherreitet. Das sind bei Ford die Nationalfarben, in denen ein amerikanisches Selbstverständnis sich ausdrückt.

Einen Sovocolorfilm aus den Fünfzigern, den könnte ich ohne jede andere Information sofort erkennen und bin mir schon bewußt, daß das russische Farbmaterial ein weiterentwickeltes Agfacolor ist. Farbe ist nur vorstellbar als Kontext. Eine Farbe pur gibt es nicht. Mit Farbenverhältnissen hat es zu tun, daß es nationales Farbempfinden und nationale Farbgebungen gibt. Um das zu verstehen, ist Rossellinis Viva l'Italia eine überzeugende Lektion. Aber auch die Sovocolor-Grautöne haben mit der russischen Realität zu tun. Das Grün bei Boris Barnet in Ringer und Clown, der zum Teil in der Ukraine gedreht wurde, ist real ein anderes Grün als dasjenige, dessen Erfahrung Renoir festhalten wollte, als er The River drehte. Wenn Renoir sagt, „Wir haben das Grün in Indien noch angepinselt, damit es wirklich das Grün von Indien wurde“, meinte er ein Grün, das aus dem indischen Kontext kommt. Die weißen Zuckerbäckerschnörkel machen möglicherweise erst die Einmaligkeit des Mandelgrüns der Eremitage in Leningrad aus, aber auf dieses Grün hätte niemand in Westeuropa kommen können.(...)

Für Sergej Eisenstein war Farbe der Explosivstoff innerhalb seines sonst so kalkulierten Systems, das Unterschwellige, das er als Alternative sehr ernst nahm. Er fürchtete sie nicht für seine Rationalität, für ihn war die Farbe die Möglichkeit einer notwendigen Offenheit. Die Farbe im Iwan ist eine Befreiung.

Es ist auffalllend - und wahrscheinlich hat es mit dem Krieg zu tun -, daß Eisenstein sich so ausführlich und intensiv mit Farbe in der Malerei auseinandergesetzt hat. Er mußte sich mehr Farbe ausdenken, als daß er damit arbeiten konnte. Aber er gibt immer zu verstehen, daß sie für ihn das exzessive Mittel ist, ein absolut notweniger Teil seiner Pathos-Theorie.

Inwiefern hatte Eisenstein psychologisches Wissen über Farben?

Daß seine Vorstellung von der Verwendung von Farbe oft etwas beschränkt psychologisierend wirkt und kinounspezifisch, kommt daher, daß seine Farbtheorien aus Büchern kommen und sich nur wieder in Texten niederschlagen konnten. Es macht schon skeptisch, daß er sich so detailliert auseinandersetzt mit Farbe bei El Greco oder den japanischen Holzschnittkünstlern, aber die modernen Maler ablehnt. Aber im Iwan funktioniert die Farbe revolutionärer, als er sie in seinen Theorien beschreibt. Die Zentrifugensequenz in der Generallinie ist auch ein Stück Farbfilm, das ist Weiß in Fluß, bewegte Milch, die Dynamik, die das System sprengt. So sehe ich es, aber vielleicht ist das hineingesehen, Wunschdenken.

Gibt es Kitsch im Farbfilm? Sind solche Kategorien der Kunstkritik

wie „Kitsch“, überhaupt auf den Film anwendbar?

Das führt zu nichts. Den „guten Geschmack“, der in der Malerei der Maßstab war, um Kitsch von Qualität zu unterscheiden, sollte der Film besser meiden. Ich habe kürzlich zwei Cleopatra-Filme gesehen, einen in Technicolor von Gabriel Pascal, ein Mann aus der Umgebung von Alexander Korda, und einen schwarzweißen von De Mille. Der De Mille ist für Leute mit gutem Geschmack brutal in seiner amerikanischen Art, Ägypten zu rekonstruieren. Dem englischen Film konnte man trotz des ägyptischen Äußeren sofort ansehen, daß es ein Farbfilm aus den fünfziger Jahren war. Aber die Farben waren nie vulgär oder krude wie bei Hawks oder Tashlin oder Jerry Lewis, bei denen amerikanische Farben immer durchschlagen. Alles war pastellfarben, gedämpft, eine Palette, dem guten Geschmack angepaßt. Genau das war der Punkt, den ich an diesem Film als kitschig bezeichnen würde.(...)

Die wilden Farben bei Tashlin oder im Nutty Professor von Jerry Lewis sind nicht geschmackvoll. Aber was für Filme, um sich eine Vorstellung davon zu machen, was die Fünfziger waren! Jerry Lewis- und Tashlin-Filme demonstrieren die Farbrevolution, die sich in Amerika vollzog.

Was meinen Sie mit Farbrevolution?

Acryl kam an die Macht, Acrylfarben, Kaufhausfarben, die von den Malern erst zu ihren neuen Farben gemacht wurden. Heute kommen in den Malerbildern die Farben der fünfziger Jahre wieder, die auch über die Filme in die Realität eingegangen sind.

Schauen Sie sich an, wie Godard in Made in USA Primärfarben verwendet - Karinas grünes Kleid mit violetten Streifen -, noch vor dreißig Jahren hätte man sich nicht getraut, diese Farben zusammenzutun. Die paßten nicht zueinander. Godard zeigt, wie diese unnatürlichen Farben unsere alltägliche Umgebung geworden sind. In Made in USA stehen in einer Garage nebeneinander knallblaue, rote und gelbe Kanister. Dazwischen montiert Godard ein Vorgärtchen mit Blumen. Damit begreift man, daß die Naturfarben, die durch Jahrhunderte unsere Vorstellung von Farbe prägten, heute keine Chance mehr haben. Godards konzentrierte Farben, seine Primärfarben zeigen, wie die Kunstfarben die natürlichen Nuancen ausschalten. In Weekend sieht man nicht mehr die Landschaft, sondern die Autos und Farbe, die von Bränden herrührt. Godard hat Farbe nie realistisch-mechanisch gebraucht, sondern immer selekiv wie ein Maler, mit einer bewußt reduzierten Palette.

Wie steht es bei Rohmer?

Rohmer war einer der ersten, der in den Cahiers über Farbfilm geschrieben und ihn verteidigt hat. Er hat gesehen, welche Rolle sie für Hitchcock spielte, in Under Capricorn zum Beispiel, zu einer Zeit, als andere über die schreienden Kinofarben nur die Nase rümpften. Heute, nachdem die perfektionierte Farbfotografie ein Standard geworden ist und die gelackten Publicityfotos die Blicke abgestumpft und eingefroren haben, dreht er von neuem auf 16 mm, weil es Nuancen und Differenzierungen erlaubt, die man mit 35 mm nicht mehr bekommt. Er sieht für sich auf 16 mm eine größere Möglichkeit, sich das Stereotyp vom Leib zu halten. Für ihn sind nicht etwa die schmuddeligen 16-mm-Farben spontaner und näher an der Realität, sondern weiter weg vom Druck der gelackten Bilder.

Blue Velvet von David Lynch geht auch auf die Acrylwirklichkeit zurück, gebraucht Farbe differenziert, gebrochen, ironisiert.

David Lynch hat den Affektwert von Farbe für seine Art des Filmemachens entdeckt. Er verwendet Farbe nicht symbolisch, sondern wie Hitchcock zum Bangemachen oder auch, um Ekel zu produzieren. Er versucht, mit Farbe zu machen, was er vorher in Eraserhead mit Schwarzweiß probierte. Die Charge, die Farbe bei der Erzeugung von Gefühlen der Anomalität haben kann, hat er voll genutzt. Man weiß, daß es während der Dreharbeiten zu Mitchell Leisens Lady in the Dark Leuten schlecht wurde, wenn in der Mittagspause seine blauen Menschen in die Kantine zum Essen kamen. In den Zusammenhang gehört das Zitat von Philipp Otto Runge, das ich bei Wittgenstein gefunden habe: „Wenn man sich ein bläuliches Orange, ein rötliches Grün oder ein gebliches Violett denken will, wird einem so zu Muthe wie bei einem südwestlichen Nordwinde.“

Heute werden Schwarzweißfilme elektronisch koloriert. Bedeutet das eine Aktualisierung von Filmgeschichte?

Die Aktualisierung ist das Argument der Händler, der Verkäufer. Ich glaube einfach nicht, daß sich die Leute Casablanca im Fernsehen lieber eingefärbt anschauen als in Schwarzweiß. Sie sind an Bogart als den Helden in schwarzen Filmen gewöhnt. Man weiß, daß das Fernsehen der Anstoß war, der den Farbfilm in den Fünfzigern durchsetzte. Um mit dem farbigen Fernsehen weiterhin Geschäfte machen zu können, überlegten sich die Filmproduzenten, mußten sie auf Farbe drehen.

Die elektronisch eingefärbten Schwarzweißfilme mit ihren kadavermäßigen, stichigen Farben wirken wie handkoloriert, wie früher Aushangfotos in den Schaukästen in den Kinos. Statt aktueller macht die Kolorierung die Filme älter.

Das Argument der Leute, die die Kolorierung verteidigen, ist, daß die Realität doch farbiger sei. Aber im Fernsehen wirken die kolorierten Filme wie ein neues Farbsystem und nicht wie das normale Farbfernsehen. Die Filme wirken jetzt noch geisterhafter, als sie in Schwarzweiß ohnehin sind. Wenn sich die Kolorisierung durchsetzt, dann wieder nur als Gewohnheit und nicht gerechtfertigt durch größere Realitätsnähe.

Wollen die Zuschauer wirklich Farbe?

Da sind die Auskünfte widersprüchlich. Vom deutschen Fernsehen hört man, es gäbe keine Veranlassung zur Kolorisierung, bei Zuschauerumfragen hat es keine Äußerungen gegen Schwarzweißfilme gegeben. In Amerika dagegen sollen sich die Fernsehzuschauer für die Kolorisierung ausgesprochen haben.

Wie ist das zu interpretieren?

Möglicherweise weil der Raumverlust der Filme schon eine erste Banalisierung, eine Einebnung der Ausdrucksformen mit sich bringt. Diese Verluste summieren sich zu einer Plattheit, bei der zum Schluß nur noch die Story übrigbleibt, so daß es nicht mehr darauf ankommt, ob noch ein bißchen draufkoloriert wird. Von dem, was einmal die Besonderheit dieser Filme ausmachte, ist sowieso nicht einmal mehr die Hälfte zu sehen. Wen kümmern wirklich die Intentionen, mit denen sich etwa ein Huston - den erwähne ich, weil er vor dem Kongreß gegen die Verschandelung protestiert hat - seine Filme konzipiert hat. Die Filme sind zuerst ein Konsumprodukt. Wir in Europa sind etwas altmodischer und sehen ein wenig mehr die Autoren hinter den Filmen. In Amerika gibt es keine Autorenrechte. Den Firmen gehört das autorenlose Massenprodukt, mit dem sie machen dürfen, was sie wollen. Aber selbst in Hollywood haben die einzelnen Macher die Massenprodukte auf ihre Weise geprägt. Jacques Aumont vertritt in seinem schon zitierten Buch die überlegenswerte These, daß das wiedererwachte Interesse der Filmer an der Malerei sich gegen das Fernsehen richte. Wenn Scorsese sagt, er wolle das Gewicht von Farbe und Leinwand darstellen, dann geht das in die Richtung. Er kann unmöglich den Fernsehschirm gemeint haben.

Godard hat gesagt, ihm sei es egal, seine schwarzweißen Filme so zu lassen, wie sie seien, oder sie einzufärben. Nur, er will sie selbst kolorieren und es nicht einfach der Industrie überlassen. Genauso hat er reagiert in Bezug auf Reklame in seinen Filmen bei der Fernsehausstrahlung. Er überbietet die Vandalen: Er würde Reklame nicht nur an zwei Stellen haben wollen, sondern lieber gleich an fünf oder sechs.

Da macht er nur, was er schon immer getan hat: den jeweiligen kommerziellen Zustand des Kinos hernehmen und ihn individuell bearbeiten. Er würde seine Filme kolorisieren, wie er früher die Farben des amerikanischen Kinos in die Primärfarben seiner Filme umgeändert hat. Das ist seine Strategie, die aus seinem Verständnis von Kino folgt. Er nimmt dem Apparat die Sachen weg und funktioniert sie um. Er ist ein trickreicher Kompromißler: „Ihr wollt einen kleinen schwarzen Film? Gut, machen wir.“ Was dabei herauskommt, ist A bout de souffle. Oder wenn grobkörnige Dokumentarfotografie verlangt wird, dann macht er Les carabiniers. Genau so verhält er sich der Kolorisierung gegenüber. Das war immer schon die Art, mit der die Künstler sich gegen den Druck des Massenhaften gewehrt haben.

So habe ich die Revolution der Acrylfarben gemeint. Als Kaufhausfarben waren sie uninteressant. Aber auf den Bildern der Maler lassen sie erkennen, wie unsere Gesellschaft, wie die Zeit denkt. Godards Beweglichkeit war immer bewundernswert. Ihm fällt ein, wie man sich wehren kann. Aber offensichtlich ist das heute nur noch für wenige wichtig. Bei uns kommen seine Filme nicht einmal mehr ins Kino.(...)

Wie ist es mit Scorsese?

Er hat grundsätzlich Farbe als ein Problem des Films immer mitreflektiert. Ausdrücklich zum Beispiel in den schwarzweißen Homemovies in Raging Bull. Da reflektiert er von innen, aus den Bildern heraus das Problem. Es gibt in seinen Filmen immer Momente, in denen Farbe sich unabhängig macht, ein Element für sich wird und nicht nur mit der Reproduktion der Realität zu tun hat. Farbe ist bei ihm die Domäne des Kinos, abgesetzt von der des Fernsehens - die Auseinandersetzung mit dem Fernsehen, die falsche Intimität seiner Bilder, die zur Distanzlosigkeit führt, ist dann in King of Comedy ein ganzer Film geworden.

Nick Noltes schwerfällige Naivität und seine Schwermut summieren sich zu dem spezifischen Gewicht von Farbe, was Scorsese sich darzustellen vorgenommen hatte in New York Stories. Man kann sich den reinen Verlauf der Geschichte aber auch mit einem anderen Künstler vorstellen, aber Scorsese wollte die Schwierigkeit zu leben in Farbe darstellen. Man müßte sich die New York Strories einmal zusammen mit seinem Clip für Michael Jackson vorführen, um zu sehen, welche Farbe er mit dem Fernsehen verbindet. Er selbst sieht sich, glaube ich, als Malerfilmer.

Der Clip zeigt, wie die irren Videokamerabewegungen in After Hours, daß in unserer Visualität heute Video und Kino verbunden sind. Daß es notwendig ist, beide zu begreifen. Wenn Scorsese einen Clip macht, begibt er sich automatisch in den Bereich der Reklamebilder. Ob das auch gleich schon heißt, in den Bereich der utilitären Farbe im Unterschied zur autonomeren im Kino, das wäre zu untersuchen.(...)

Im Experimentalfilm ist unbestritten, daß Farbe ein autonomes Element sein kann. Vermutlich würde aber auch Hitchcock immer ärmer, wenn er nicht mit Farbe gearbeitet hätte.

Hitchcock würde nicht nur ärmer, sondern er hätte auch gewisse Sachen gar nicht gemacht, wenn das Inspirationsmoment für ihn nicht die Farbe gewesen wäre. Wenn er in Vertigo die Zigarette im Eigelb ausdrückt, ist das wirklich etwas anderes, als wenn Rebecca die Zigarette in etwas Weißem ausdrückt. Hitchcock will nicht nur die Personen definieren, wie zum Beispiel in Vertigo: Grün ist die Farbe des Todes, also hat Kim Novak ein grünes Kleid an.

Er weiß, wie man den Zuschauer durch Farbinszenierung in bestimmte Richtungen bringen kann.

Wie war der Übergang bei Hitchcock von Schwarzweiß zu Farbe?

Sein erster Farbfilm war Rope, danach kam Under Capricorn mit wunderschön verrutschten Farben, in meiner Erinnerung vor allem rosarot mit einem kräftige Blaustich. Sein Kameramann Jack Cardiff hat im 'American Cinematographer‘ über die Dreharbeiten berichtet.

An Psycho ist der Umstand interessant, daß Hitchcock zu Truffaut gesagt hat, Psycho sei seine erste Auseinandersetzung mit dem Fernsehen gewesen.

In bezug auf Horror hat er auf nichts verzichten müssen. Später hatte Hitchcock die Neigung zu gemalten Hintergründen, zum Beispiel in Marnie, theatralische, völlig unrealistische Hintergründe, wie auch in The Rope. In Trouble with Harry zeigt sich, daß Hitchcock bewußt mit bestimmten Farbkontexten gearbeitet hat. Ohne das Gelb und das Rötlichbraun der Herbstwälder von Vermont hätte er den Film nicht gemacht.

Edward Hopper ist der umgekehrte Fall des fast filmischen Malers.

Die Farbe bei Hopper ist genau so unrealistisch wie die Farbe im Film. Der Hyperrealismus von Hopper liegt in den Formen, aber nicht in der Farbe. Der Eindruck des wirklich Amerikanischen kommt nie aus der Farbe. Die Farbe ist genau so irreal wie im Kino.

Egal ob es um Horror geht, um Melo oder um Musicals: Die Filmer haben sich auf die Farbe gestürzt, um vom Realismus des Kinos wegzukommen und nicht um ihn durch realitätsnahe Farben noch zu konsolidieren.

Das ist bei Antonioni oder bei Scorsese nicht anders. Wenn bei den Autoren ein Bewußtsein von Farbe da ist, wird sie sofort immer in bezug auf den Zuschauer verwendet. Die Position des Zuschauers hat sich mit dem Bewußtsein der Farbe als Gestaltungsmittel verändert. Die bewußten Farbfilmer verwenden die Farbe in dem Punkt genauso wie die Maler. Die Farbe wird nicht der Geschichte entsprechend der Form in der Malerei untergeordnet. (...)

Aber Fiktion im Kino ist etwas anderes als in der Malerei. Renoir, der schon sehr früh, 1933, zum Farbfilm Stellung nahm, war sowohl dagegen, die Malerei zu imitieren, als auch gegen die exakte Wiedergabe der Farben der Realität. „Tout est fiction“, sagte er. (...) Er weiß, daß im reproduktiven, fotografischen Medium die Fikton woanders sitzt.

Daß dem Zuschauer im Farbfilm nichts zu tun übrigbliebe, ist ein hirnrissiges Klischee. Man muß schon blind sein, wenn man Robert Mitchum inHome from the Hill in seinem dicken roten Ledersessel sitzen sieht und das einem nicht die Fantasie beflügelt. Das schafft die ganze Figur. Das funktionert über das Rot wie ein Logo. Barthes wollte wissen, was durch die technischen Medien sich in der Kunst verändert hatte. Die primäre Eigenschaft der reproduktiven Künste ist die Analogie. Die Analogie hat man in der klassischen Ästhetik verachtet. Nachmachen, imitieren, das kann jeder. Aber man kann auch mit Realitätsstücken Artefakte machen. Die Kinofarbe ist nicht Natur, sondern Chemie.

Kino ist trotz Reproduktion ein Artefakt. Manche Leute haben eine Vorstellung von Abstraktion im Kopf als der letzten, notwendigen Wiege aller wahren Kunst. Sie hebt die Kunst erst auf den Sockel. Aber wenn im Kino das Licht ausgeht und die Bilder auf der Leinwand sich zu bewegen beginnen, ist diese Art von Theoretikern nicht mehr in der Lage, eine Totale im Unterschied zu einer Halbnahen wahrzunehmen. Sie sehen die Fiktion, die Inszenierung nicht. Aber das ist nicht das Manko des Films.

Schwarzweiß ist wieder schick, cinephil. Was ist mit Schwarzweiß möglich, was Farbe nicht leisten kann?

Man muß sich fragen, warum gewisse Autoren heute lieber schwarzweiß drehen. Es ist eine verständliche Reaktion. Hinsehen zu stimulieren. Wahrnehmung anzustacheln, nachdem die zur Konvention gewordene Farbe alles eingeebnet hat.

Ich denke mir, daß Wim Wenders mit dem Kameramann Henri Alekan arbeitet, weil er anknüpfen möchte an eine bestimmte europäische Tradition. Alekan war Assistent bei Carne, der europäische Film Noir ist von diesem Schwarzweiß ausgegangen, und Alekan hat auch schon für Ophüls die Geister in den Kronleuchtern über den Hochzeitsgästen fotografiert. Aber er hat auch Farbfilmerfahrung, über die er in seinem Buch sehr reflektiert berichtet. Sein Schwarzweiß heute ist eines, das durch die Farbe hindurchgegangen ist, wie Wim durch seine amerikanische Erfahrung.

Jim Jarmusch macht New Yorker Kino, und in Schwarzweiß zu drehen ist, sich dem Hollywoodkino zu widersetzen. Wenn in Schwarzweiß zu drehen nur Attitude ist und keine Entscheidung, dann funktioniert es für die Filme wie Farbe.

Jarmusch und Wenders machen ja fast „malerisches“ Schwarzweiß.

Aber es ist ein anderes malerisches Schwarzweiß als das der Stummfilmregisseure, das wie das Schwarzweiß der großen Kameraleute des Film Noir eine Lichtgeschichte ist. Bei Jarmusch ist es Post-Farbe. Die jungen Kameraleute machen heute Farb-Schwarzweiß.(...)

Gekürzt aus: Cinema Nr. 35, Stroemfeld/Roter Stern 1989

Cinema ist eine äußerst lesenswerte und leider hierzulande zu wenig bekannte Schweizer Filmzeitschrift, nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Hamburger Filmillustrierten. Cinema erscheint einmal im Jahr, das Grafe-Interview entnahmen wir dem letzten Heft zum Thema „Film und die Künste“. Das nächste Heft erscheint im Herbst. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung des Abdrucks.

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